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Im Kontext der COVID-19-Pandemie stehen die empirisch Forschenden vor besonderen Herausforderungen: Da Kontaktbeschränkungen persönliche Formate verhinderten, galt es nicht nur die Datenerhebungen, sondern auch die qualitative Interpretationsarbeit (Datenauswertung) im virtuellen Raum zu gestalten. In diesem Beitrag skizzieren wir eine digitale Möglichkeit der strategischen Durchführung gemeinsamer Interpretationsarbeit in der qualitativen Gesundheitsforschung unter Bedingungen des „Physical Distancing“, die auch Anregung für forschungspraktisches Vorgehen in der postpandemischen Zukunft gibt.
Abstract
In the context of the COVID-19 pandemic, researchers face particular challenges: as contact restrictions prevented face-to-face formats, both data collection and qualitative interpretation work (data analysis) had to be carried out in virtual space. In this article, we outline a digital option for strategically conducting joint interpretation work in qualitative health research in times of “physical distancing”, which also provides inspiration for research practice in the post-pandemic future.
Hövermann, A. Soziale Lebenslagen, soziale Ungleichheit und Corona - Auswirkungen für Erwerbstätige: Eine Auswertung der HBS-Erwerbstätigenbefragung im April 2020, WSI Policy Brief, Nr. 44, Düsseldorf; 2020.
]. Forschende weltweit beleuchten ihre Auswirkungen nicht nur aus naturwissenschaftlicher und medizinischer Sicht, sondern nehmen auch die psychosozialen Folgen in den Blick [
]: Mit verschiedenen Ansätzen gelang es Forschenden nachzuvollziehen, wie (gesundheits-)politische Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung implementiert und damit einhergehende gesellschaftliche Veränderungen erlebt und ausgehandelt wurden.
Auch die Forschungspraxis musste an die Pandemiebedingungen angepasst werden. So war Forschung im Feld (z.B. in einem face-to-face Kontakt) nicht mehr ohne weiteres möglich und Methoden der Datenerhebung konnten nicht mehr den Fragestellungen entsprechend eingesetzt werden [
]. Zudem waren Forschende selbst von der Pandemieentwicklung betroffen.
Für die Erhebung und Auswertung qualitativer Daten mussten neue, pandemiegerechte Vorgehensweisen entworfen werden. Hierfür kamen insbesondere digitale Lösungen infrage [
Der Einsatz technologiebasierter Anwendungen zur Erhebung von qualitativen Daten, z.B. Telefon- und Online-Interviews, wurde bereits vor der Pandemie erprobt. In der Literatur zu virtueller qualitativer Forschung werden primär technologiebasierte Werkzeuge beschrieben. Größtenteils fehlt jedoch eine kritische Auseinandersetzung zur Rekrutierung, dem Beziehungsaufbau zu Partizipient*innen und der Positionierung der Forschenden [
]. Nur wenige Autor*innen beleuchten digitale Formate zur Gestaltung qualitativer Interpretationsarbeit. Reichertz (2021) konstatiert, dass die veränderte Forschungsarbeit, „die Auswertung maßgeblich – nicht zum Besseren“ verändert habe. Insbesondere die medienspezifische Kommunikation und Interaktion (z.B. Möglichkeiten des Einanderansehens in der Videokonferenz) wirkten sich auf das Interpretationsgeschehen aus und erschwerten die „Schaffung eines Arbeitsflows“ und einer „gemeinsamen Überzeugung” sowie in der Folge eines „echten Gruppenkonsens“ [
Dieser Artikel leistet einen Beitrag zum Diskurs über praktisches Vorgehen in der qualitativen Interpretationsarbeit im Zuge der Pandemie. Wir zeigen beispielhaft an der Studie „COVID-19-HCP“ [
Hörold M, Drewitz KP, Piel J, Hrudey I, Rohr M, Brunnthaler V, Hasenpusch C, Ulrich A, Otto N, Brandstetter S, Apfelbacher C. Intensive Care Units Healthcare Professionals’ Experiences and Negotiations at the Beginning of the COVID-19 Pandemic in Germany: A Grounded Theory Study. INQUIRY: The Journal of Health Care Organization, Provision, and Financing. 2022; https://doi.org/10.1177/00469580221081059.
] eine Möglichkeit der strategischen Durchführung virtueller Forschungsarbeit unter Bedingungen des „Physical Distancing“, die auch Anregungen für analoge Forschungsszenarien in post-pandemischen Zeiten gibt. Um unsere Vorgehensweise zugänglich zu machen, stellen wir einführend zentrale Aspekte dieser Studie vor.
Beispiel qualitativer Forschung über und in der COVID-19-Pandemie
In einem Forschungsteam bestehend aus Sozial- und Gesundheitswissenschaftler*innen sowie Mediziner*innen konzipierten wir im März 2020 eine explorativ-qualitative, longitudinale Studie mit zwei Erhebungszeitpunkten. Die Studie wurde intramural finanziert. Ziel war es, zu erfassen und zu verstehen, wie Gesundheitsprofessionen (Mediziner*innen, Pflegefachpersonen und Medizinstudierende) in der klinischen Intensivversorgung von COVID-19-Patient*innen ihr professionelles Handeln erleben und neue Routinen in den Abläufen der Versorgung konstituieren [
Hörold M, Drewitz KP, Piel J, Hrudey I, Rohr M, Brunnthaler V, Hasenpusch C, Ulrich A, Otto N, Brandstetter S, Apfelbacher C. Intensive Care Units Healthcare Professionals’ Experiences and Negotiations at the Beginning of the COVID-19 Pandemic in Germany: A Grounded Theory Study. INQUIRY: The Journal of Health Care Organization, Provision, and Financing. 2022; https://doi.org/10.1177/00469580221081059.
]. Dieser Forschungsstil hebt hervor, dass Interpretationen gemeinsam - von den Forschenden - konstruiert werden. Die kGT zeichnet zudem aus, dass die Subjektivität des*r Forscher*in als konstitutiv für den Erkenntnisprozess erachtet wird [
Im Zuge des theoretical samplings kontaktierten wir zwischen März und Juli 2020 bundesweit über 100 Krankenhäuser. Über verschiedene Kommunikationskanäle (E-Mail, Telefon, etc.) rekrutierten wir durch persönliche Kontakte und professionelle Netzwerke sowie per Schneeballsampling 39 Partizipient*innen. Mit 24 der ursprünglich 39 Partizipient*innen kam zwischen November 2020 und März 2021 ein Follow-up Interview zustande.
Die Zusammensetzung der Forschungsgruppe veränderte sich im Studienverlauf. Zum ersten Erhebungszeitpunkt bestand sie aus zwölf Forschenden, die zuvor nicht alle miteinander bekannt waren. Die Gruppengröße reduzierte sich in der zweiten Erhebungsphase auf neun Personen. Die Forschenden unterschieden sich hinsichtlich ihrer Vorerfahrungen und Qualifikationen in der Forschungs- und Versorgungspraxis. Sie arbeiteten aus dem Homeoffice von mehreren Standorten in Deutschland. Einige hatten einen Berufsabschluss im Gesundheitsbereich (z.B. in der Pflege mit Erfahrungen in der Intensivpflege, medizinisch-technische Radiologieassistenz, Psychologie, Physiotherapie). Nicht alle Forschenden beteiligten sich an der Datenerhebung bzw. -auswertung. Es wurden Telefon- und Online-Interviews (über ein datenschutzkonformes Videokonferenzsystem) durchgeführt. Zudem nutzten wir digitale Anwendungen zum Wissensmanagement (u.a. Confluence) und Videokonferenzsysteme für virtuelle Treffen der Forschungsgruppe.
Qualitative Forschung in der Gruppe
In der qualitativen Forschung hat sich seit den 1970er Jahren die Zusammenarbeit in der Gruppe als wesentliches Mittel der Qualitätssicherung etabliert [
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
]. In verschiedenen Formaten beraten sich Forschende über den Einsatz unterschiedlicher Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung unter Rückbezug auf methodologische und theoretische Konzepte. Die Annahme ist, dass die Multiperspektivität der Gruppe in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Forschungsinteresse, der Konzeption eines Forschungsdesigns sowie der Gewinnung und Auswertung qualitativer Daten einen intersubjektiven Erkenntnisgewinn ermöglicht [
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
]. Die Gruppe, bestehend aus mehreren Forschenden, erfüllt demzufolge vier Funktionen im Forschungsprozess: 1. Nutzung als Kolloquium, 2. Interpretationsgemeinschaft, 3. Supervision, 4. Unterstützung und Begleitung [
Selbstreflexivität und Subjektivität im Auswertungsprozeß biographischer Materialien: zum Konzept einer “Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens” zwischen Colloquium, Supervision und Interpretationsgemeinschaft.
in: Jüttemann G. Thomae H. Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Beltz Psychologie Verl. Union,
Weinheim1998
Im Gegensatz zu der von Mruck & Mey beschriebenen PW waren alle beteiligten Forschenden in der COVID-19-HCP-Studie tätig und mit dem Forschungsgegenstand vertraut, sodass das wechselseitige Verstehen leicht fiel. Demzufolge definieren wir das Format unserer Zusammenarbeit und Interaktion nicht als Supervision, sondern als Intervision (kollegiale Beratung) [
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
In unserem Fall diente die Gruppe dazu, als reflexive und korrektive Instanz den iterativen Verlauf von Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung zu gestalten. Im Sinne der Qualitätssicherung unserer Forschung konnte im diskursiven Austausch in der Forschungsgruppe die Gültigkeit von Interpretationen geprüft werden (kommunikative Validierung) [
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
]. Im Folgenden wird beispielhaft aufgezeigt, wie wir die Forschungsarbeit innerhalb des Projektes organisierten.
Das Konzept der kommunikativen Validierungsschleife für die (virtuelle) Forschungsgruppe
Zur Strukturierung unserer Interpretationsarbeit entwickelten wir das Konzept der „kommunikativen Validierungsschleife“ (kVS), welches Selbstreflexion (Forscher*innensubjektivität [
]) und Diskussion innerhalb unserer Forschungsgruppe kombiniert. Die kVS ist zu verstehen als Strategie zur internen Validierung für qualitative Forschungsprozesse, die das Denk- und Prozessmodell der „systemischen Schleife“ aus der Systemischen Therapie und Beratung in die qualitative Forschung integriert [
]. Ausgangspunkt dieser explorativen Zusammenführung von zwei verschiedenen Praxisfeldern sind im Vorfeld wahrgenommene Schnittmengen zwischen systemischer Beratungspraxis und qualitativ-interpretativer Forschungsarbeit. So sind aus Sicht von Praktiker*innen in beiden Bereichen das Verstehen und gemeinsame Reflektieren von Sichtweisen und Interpretationen sozialer Wirklichkeit zentrale Elemente [
]. Während sich aus der systemischen Haltung heraus der Schritt des Verstehens der Sinndeutungen der*s Klient*in als Prämisse für die (partizipative) Ausgestaltung von Interventionen verdeutlicht, zeigt sich fortlaufendes Reflektieren und Interpretieren in der qualitativen Forschung durch die gemeinsame Interpretationsarbeit. Mit der Anwendung der kVS wird die Forschungsarbeit in besonderer Weise gewürdigt. Angelehnt an das Modell des Reflecting Team (RT) [
] werden die vielfältigen Perspektiven der Teilnehmenden für den gemeinsamen Erkenntnisprozess genutzt. Die gemeinsame Interpretationsarbeit wird durch wechselnde Moderation angeleitet. Der inhaltliche Schwerpunkt wird durch eine teilnehmende Person gesetzt. Im RT diskutiert ein Teil der Gruppe über ein von dieser Person bestimmtes Thema (z. B. Interviewsituation, Deutungshypothesen zum Datenmaterial), während die themeneinbringende Person sowie die restlichen Teilnehmenden zuhören und Gelegenheit zur Reflexion des Gehörten erhalten. In einer nachfolgenden Diskussion in der Gesamtgruppe werden die verschiedenen Perspektiven zusammengetragen und gemeinsam validiert, bis eine endgültige Ratifizierung erreicht ist [
Aus dieser angeleiteten Reflexionsarbeit ergibt sich eine intersubjektive Lesart der Phänomene, die sich in den Daten zeigen.
Mit der kVS gelingt es demzufolge, ähnlich gelagerte Grundhaltungen von systemischer Beratungs- und qualitativer Forschungspraxis zu vereinen mit der Absicht, den Gütekriterien der qualitativen Forschung nachzukommen [
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
] und den Forschungsprozess für die Forschenden unabhängig von Vorerfahrungen nachvollziehbar zu strukturieren.
Nachfolgend wird ein idealtypischer Verlauf der kVS mit ihren vier Phasen in der gemeinsamen Interpretation von erhobenen Daten dargestellt.
In der ersten Phase berichten alle Teilnehmenden der Session in einer „Blitzlichtrunde“ von ihren Forschungsaktivitäten seit dem vergangenen Treffen. Die Moderation sammelt Anliegen der einzelnen Forschenden (z.B. Felderfahrungen), die im Rahmen der Interpretationsschleife thematisiert werden können. Ferner werden rückblickend die bereits erfolgten Schritte der Datenerhebung und -auswertung seit der vorangegangenen Session diskutiert und Themen für die aktuelle Session vorgeschlagen, von denen eines priorisiert wird. Phase 2 hat das Ziel, gemeinsam den inhaltlichen Schwerpunkt der Session zu definieren. Hierfür schildert die Person, deren Thema ausgewählt wurde, ihre Lesarten des Datenmaterials (z.B. Transkriptausschnitt aus einem Interview) bzw. Gedanken zur eigenen Rolle als Forschende. Danach äußern die anderen Teilnehmenden Verständnisfragen. In Phase 3 finden sich die Forschenden in einem „Reflecting Team“ [
] zusammen. Das bedeutet, die Gruppe beginnt, Annahmen über Handlungen und implizite Deutungen, wahrgenommene Verzerrungsrisiken in den Daten oder auch Besonderheiten in der Sprache (z. B. Metaphorik) von Forschungsteilnehmenden und von persönlichem Empfinden seitens der Forschenden zu thematisieren. Das Reflecting Team bündelt die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Forschungsgruppe zum Datenmaterial und würdigt die bisherige Forschungsarbeit.
Auf Grundlage der Ergebnisse des RT reflektiert die themeneinbringende Person aktiv mit der Gruppe in Phase 4 schließlich die zuvor gesammelten Deutungsmöglichkeiten. Nachdem die Moderation in dieser Phase die Diskussionsergebnisse zusammengefasst hat, ordnet die Forschungsgruppe die gemeinsam generierten Erkenntnisse in den Kontext des Forschungsprozesses ein und definiert weitere Ziele bis zur folgenden Session. Die Diskussionsergebnisse werden mithilfe digitaler Hilfsmittel von einem*r Teilnehmer*in dokumentiert und visualisiert.
Eine Session, die auf diesem Ablaufmodell basiert, umfasst in etwa 90 Minuten. In diesem zeitlichen Rahmen bearbeiten vier bis zehn Forschende maximal zwei Themen à 45 Minuten (Abbildung 1).
Abbildung 1Kommunikative Validierungsschleife in der Online-Forschungsgruppe
] unserer Gruppensessions demonstriert Es handelt sich um ein protokolliertes virtuelles Treffen im Juni 2021, in dem sieben Teilnehmende gemeinsam an Datenmaterial arbeiteten kein Absatz:
Abbildung 2Praxis der kommunikativen Validierungsschleife am Beispiel einer Session aus 06/2021
Alle Session-Teilnehmenden hatten ihr Mikrofon und ihre Kamera eingeschaltet. Eingangs wurden die Rollen (Moderator*in und Dokumentar*in) entsprechend eines Rotationsprinzips zugewiesen.
An diesem Auszug zeigt sich die Relevanz der Forscher*innensubjektivität im Rahmen der pandemiebezogenen Forschung. Die beruflichen Vorerfahrungen von Forscherin H werden bewusst thematisiert und fließen in die Interpretation ein. Ferner wird durch das Aufgreifen des Pandemieerlebens in der Blitzlichtrunde deutlich, dass die Involviertheit jeder*s einzelnen Forscher*in der Gruppe die gemeinsame Deutungsarbeit beeinflusst.
Obwohl das Konzept der kVS unter Bedingungen des „Physical Distancing“ entstanden ist, bietet es Potential für die Anwendung in der analogen Praxis von Forschungsgruppen.
Diskussion
In Anbetracht der pandemiebedingten Situation fanden wir in unserer Forschungsgruppe eine digitale Möglichkeit zur Umsetzung qualitativer Forschungspraxis im Stil der kGT [
]. Wir konnten die Datenerhebung und Datenauswertung kollaborativ und ortsunabhängig gestalten. Das Miteinander in der Gruppe ermöglichte eine begleitende diskursive Reflexion des Forschungsprozesses. Die Dokumentation unserer Vorgehensweisen wurde durch den Einsatz digitaler Werkzeuge vereinfacht und im Vergleich zu analoger Zusammenarbeit schneller formalisiert. Die begleitende digitale Visualisierung von Forschungserkenntnissen unterstützte Abstrahierungsschritte im Zuge der Bildung von Konzepten und Kategorien [
]. Gleichberechtigte Nutzungsmöglichkeiten erweiterten Handlungs- und Mitgestaltungsspielräume für alle beteiligten Forschenden. Virtualität spielte aus unserer Sicht für die Qualität der Zusammenarbeit und des Miteinanders in der Gruppe eine untergeordnete Rolle. Allerdings erforderte sie Anpassungen von organisatorischen und individuellen Gewohnheiten sowie Offenheit gegenüber neuen Kommunikations- und Interaktionsformen und technologischen Anwendungen.
Das prozessbezogene Konzept der kVS war Strukturierungsgrundlage für die Zusammenarbeit in unserem Forschungsprojekt unabhängig von Forschungsphase, Fragestellung, Standort oder Umgebung der Forschenden. Die Forschungsgruppe trug durch diese Vorgehensweise zur Qualitätsprüfung der eigenen Forschung bei [
]. Als Scharnier zwischen den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses diente die Anwendung der kVS in unserer Forschungspraxis dazu, situationsbezogenen, subjektiven und emotionalen Themen der involvierten Forscher*innen Raum zu geben und diese zu würdigen. Vor dem Hintergrund der Gruppengröße war es uns wichtig, die Komplexität unseres Kommunikationsprozesses zu strukturieren, auch um Erkenntniswege nachzuvollziehen und hieraus dazuzulernen. So wurde ein reflexives Miterleben der verschiedenen Pandemiephasen als Erfahrungswissen konstruktiv aufgegriffen. Die Verzahnung von Lern- und Forschungsumgebung erwies sich unabhängig vom Format als zeit- und ressourcenintensiv, was aus aufwandsökonomischer Perspektive kritisch betrachtet werden könnte. Forschende bereiteten sich intensiv auf die Gruppensessions vor (z.B. durch Lesen von Interviewtranskripten). Im Verlauf konnten Prozesse u.a. durch eine arbeitsteilige Dokumentation optimiert werden. Die Kontinuität der Treffen sowie deren vordefinierter Ablauf stellten sicher, dass sich alle Teilnehmenden aktiv und verbindlich einbrachten. Gleichwohl war auch Spielraum für situative Anpassungen gegeben. Unsere Forschungsgruppe zeichnete sich dadurch aus, dass alle Teilnehmenden in die Studie involviert waren und dasselbe Erkenntnisinteresse verfolgten. Vor diesem Hintergrund wurde der tentative Prozess von Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung von der Gruppe durchgehend getragen. Ausgehend von den methodologischen Prämissen der kGT wurden unter maximaler Offenheit die heterogenen Forschungserfahrungen und die Entwicklung unterschiedlicher Lesarten bei wiederholter Durchsicht des Datenmaterials zur Theoriebildung aufgegriffen [
]. Hinsichtlich der Voraussetzungen für ein intersubjektiv nachvollziehbares Vorgehen unterschied sich das Online-Format nicht von Forschung im konventionell-analogen Kontext [
In diesem Beitrag zeigten wir, dass uns als Forschende qualitative Gesundheitsforschung während der Pandemie vor technische, psychologische sowie forschungspraktische und -ethische Herausforderungen stellte [
]: Wir waren gefordert, uns der Dynamik der Situation anzupassen und neue Ansätze in der gemeinsamen Interpretation von Daten zuzulassen und weiterzuentwickeln.
Mit dem Gesamtvorgehen im Forschungsprozess unserer Studie haben wir übliche analoge Arbeitsweisen in den virtuellen Raum übersetzt. Entgegen Reichertz‘ kritischen Ausführungen (2021) zu digitaler Interpretationsarbeit beobachteten und erlebten wir durch den Einsatz der kVS die Etablierung einer dynamischen Zusammenarbeit und einer lebhaften Auseinandersetzung mit dem Material („Interpretationsflow“) [
]. Zudem eruierten wir Potentiale von digitalen Anwendungen für die qualitative Forschungspraxis . Mit diesen Denkanstößen können methodologische Konsequenzen auch für post-pandemische Zeiten diskutiert werden [
Wir möchten uns ganz herzlich bei allen Interviewpartner*innen für ihre Zeit, ihr Engagement und ihre Offenheit bedanken. Darüber hinaus steht hinter den Autor*innen ein engagiertes Team und Unterstützende an den Standorten Magdeburg und Regensburg: Johannes Bernarding, Susanne Brandstetter, Elena Brushinski, Christoph Damm, Heike Heytens, Maximilian Malfertheiner, Stefanie March, Niklas Otto, Markus Plaumann, Magdalena Rohr, Ruben Ulbrich, Angela Ulrich. Ohne diese Personen wäre unsere Studie so nicht möglich gewesen.
Die Studie wurde intramural finanziert.
Interessenkonflikt
Die Autor*innen geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Autorenschaft
Madlen Hörold: Erarbeitung des Studiendesigns, Methodologie, Umsetzung Forschungsprozess, Datenerhebung, Datenauswertung, Visualisierung, Entwurf und weitere Überarbeitung des Manuskripts. Julia Piel: Erarbeitung des Studiendesigns, Methodologie, Umsetzung Forschungsprozess, Datenerhebung, Datenauswertung, Visualisierung, Entwurf und weitere Überarbeitung des Manuskripts. Philipp Drewitz: Erarbeitung des Studiendesigns, Methodologie, Umsetzung Forschungsprozess, Verwaltung von Daten, Datenanalyse, kritische Durchsicht, Kommentierung und Überarbeitung des Manuskripts, Projektadministration. Ilona Hrudey: Erarbeitung des Studiendesigns, Umsetzung Forschungsprozess, Datenerhebung, Datenauswertung, kritische Durchsicht, Kommentierung und Überarbeitung des Manuskripts. Claudia Hasenpusch: Datenerhebung, Datenauswertung, kritische Durchsicht, Kommentierung und Überarbeitung des Manuskripts. Christian Apfelbacher: Erarbeitung des Studiendesigns, Fördermittelakquise, Methodologie, Bereitstellung von Ressourcen, kritische Durchsicht, Kommentierung und Überarbeitung des Manuskripts, Supervision.
Literatur
Hövermann, A. Soziale Lebenslagen, soziale Ungleichheit und Corona - Auswirkungen für Erwerbstätige: Eine Auswertung der HBS-Erwerbstätigenbefragung im April 2020, WSI Policy Brief, Nr. 44, Düsseldorf; 2020.
Hörold M, Drewitz KP, Piel J, Hrudey I, Rohr M, Brunnthaler V, Hasenpusch C, Ulrich A, Otto N, Brandstetter S, Apfelbacher C. Intensive Care Units Healthcare Professionals’ Experiences and Negotiations at the Beginning of the COVID-19 Pandemic in Germany: A Grounded Theory Study. INQUIRY: The Journal of Health Care Organization, Provision, and Financing. 2022; https://doi.org/10.1177/00469580221081059.
Qualitative Forschung findet immer in Gruppen statt.
in: Detka C. Ohlbrecht H. Tiefel S. Anselm Strauss - Werk, Aktualität und Potentiale: Mehr als Grounded Theory. firstst ed. Verlag Barbara Budrich,
Leverkusen2021: 125-144
Selbstreflexivität und Subjektivität im Auswertungsprozeß biographischer Materialien: zum Konzept einer “Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens” zwischen Colloquium, Supervision und Interpretationsgemeinschaft.
in: Jüttemann G. Thomae H. Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Beltz Psychologie Verl. Union,
Weinheim1998