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Qualität und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung / Quality and Safety in Health Care| Volume 168, P33-39, February 2022

Schutzbedürftige, Partnerinnen oder Kämpfer? Angehörige zu ihrer Rolle in der Palliativbetreuung

Open AccessPublished:February 08, 2022DOI:https://doi.org/10.1016/j.zefq.2021.12.003

      Zusammenfassung

      Angehörigen kommt in der palliativen Betreuung eine zentrale Rolle zu. Während die bisherige Forschung diese Rolle stets aus der Perspektive des Gesundheitspersonals beschreibt, rückt dieser Beitrag die Sicht der Angehörigen von Menschen mit unheilbaren Erkrankungen ins Zentrum. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, Rollenwahrnehmungen der Angehörigen von schwer oder chronisch Erkrankten in der Beziehung zu Fachpersonen zu identifizieren und in ihrer Bedeutung für die Zufriedenheit mit der Palliativbetreuung zu beschreiben. Mithilfe einer inhaltsanalytischen Interpretation von 23 leitfadengestützten Interviews mit Angehörigen in der Schweiz werden drei Formen der Rollenwahrnehmung identifiziert: die von Angehörigen als «Schutzbedürftige», «Partner/in» oder «Kämpfer/innen». Ersichtlich wird, dass die Zufriedenheit der Angehörigen mit der Palliativbetreuung in Abhängigkeit von Rollenzuweisungen im Betreuungsgeschehen durch Fachpersonen steht. Der Beitrag macht deutlich, dass ein im Bereich Palliative Care gut ausgebildetes Gesundheitspersonal sowie ein gemeinsames Verständnis der Rollen in der Palliativbetreuung zentral sind, um Angehörige zu stärken. Die Erkenntnisse können dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen Angehörigen und Fachpersonen in der Palliativpflege (z.B. Hausärztinnen und –ärzte, Pflegende im ambulanten (z.B. Pflege zu Hause) und stationären Bereich, Fachärztinnen und -ärzte (z.B. Onkologie) und spezialisierte Pflegende von mobilen Palliative Care Teams) zu fördern und Familien in der Pflege ihrer Angehörigen zu unterstützen.

      Abstract

      Relatives play a very important role in palliative care. Whilst previous research has investigated this role from the perspective of health professionals, this article focuses on the perspectives of the relatives of palliative patients. The present paper aims to identify relatives’ perceptions of their role with respect to their relationship to professionals and to describe their significance for satisfaction with palliative care. Content analysis of 23 guideline-based interviews with relatives in Switzerland identified three main role perceptions of relatives, namely as: “vulnerable persons”, as “partners” or “warriors”. The results indicate that relatives’ satisfaction with palliative care depends on the role assigned to them by specialists in the care process. This article demonstrates that well-trained health personnel in the field of palliative care and a common understanding of the roles within the palliative care team are central to supporting relatives. These findings can help inform good collaboration between relatives and professionals in palliative care (e.g., general practitioners, nurses, specialized doctors, such as oncologists, and specialized nurses) and to encourage families to feel comfortable with the care their loved ones receive.

      Schlüsselwörter

      Keywords

      Einleitung

      Angehörigen
      Mit dem Begriff “Angehörige” sind hier alle Personen gemeint, die eine wichtige Rolle im Leben einer anderen Person spielen und bezieht auch Lebenspartnerinnen und Lebenspartner oder Freundinnen und Freunde mit ein.
      kommt in der palliativen Betreuung eine immer wichtigere Rolle zu [
      • Woodman C.
      • Baillie J.
      • Sivell S.
      The preferences and perspectives of family caregivers towards place of care for their relatives at the end-of-life. A systematic review and thematic synthesis of the qualitative evidence.
      ]. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Einerseits führt der demografische Wandel in vielen europäischen Ländern – so auch in der Schweiz - zu mehr Betagten und Hochbetagten und damit verbunden zu einer Zunahme von chronischen Erkrankungen [
      • Van der Eerden M.
      • Csikos A.
      • Busa C.
      • Hughes S.
      • Radbruch L.
      • Menten J.
      • et al.
      Experiences of patients, family and professional caregivers with Integrated Palliative Care in Europe: protocol for an international, multicentre prospective, mixed method study.
      ]. Andererseits geht auch der Ausbau der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung damit einher, dass zunehmend Teile der palliativen Pflege und Betreuung im familiären Umfeld der Erkrankten erfolgen [
      • Aasbø G.
      • Rugkåsa J.
      • Solbraeække K.N.
      • Werner A.
      Negotiating the care-giving role: family members’ experience during critical exacerbation of COPD in Norway.
      ]. Dabei fungieren Angehörige oft als Bindeglied zwischen den Fachpersonen und den Erkrankten [
      • Lamore K.
      • Montalescot L.
      • Untas A.
      Treatment decision-making in chronic diseases: What are the family members’ roles, needs and attitudes? A systematic review.
      ].
      Die Begleitung und Pflege von unheilbar kranken Menschen und deren Tod stellen eine sehr belastende menschliche Erfahrung dar [
      • Aoun S.
      • Ewing G.
      • Grande G.
      • Toye Ch.
      • Bear N.
      The Impact of Supporting Family Caregivers before Bereavement on Outcomes after Bereavement: Adequacy of End-of-Life Support and Achievement of Preferred Place of Death.
      ]. Die Beteiligung von Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen und Gesundheitsorganisationen (z.B. Hausärztinnen und –ärzte, Pflegende im ambulanten (z.B. Pflege zu Hause) und stationären Bereich, Fachärztinnen und -ärzte (z.B. Onkologie), spezialisierte Pflegende von mobilen Palliative Care Teams), aber auch der Einbezug von Angehörigen ist nötig, um eine höchstmögliche Betreuungsqualität für die Erkrankten zu erreichen. Inwieweit dieser Einbezug gelingt, hängt nicht zuletzt von den wechselseitigen Erwartungen ab, welche im Betreuungsgeschehen generiert werden [
      • Hare A.P.
      Roles, relationships, and groups in organizations: Some conclusions and recommendations.
      ]. Wie das aus der Sozialpsychologie und Soziologie stammende Konzept der «sozialen Rolle» deutlich macht, entstehen im kommunikativ-interaktiven Betreuungsprozess Verhaltenserwartungen, welche normative Wirkungen entfalten und die soziale Situation der Betreuung strukturieren [
      • Goffman E.
      Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.
      ]. Halten sich innerhalb eines Betreuungsgefüges alle Beteiligten an die im Interaktionsgeschehen verhandelten Rollen, resultieren daraus tendenziell gute Leistungen und Zufriedenheit bei den Beteiligten [
      • Bettencourt B.A.
      • Sheldon K.
      Social roles as mechanisms for psychological need satisfaction within social groups.
      ]. Missverständnisse und Konflikte können jedoch dann auftreten, wenn die Erwartungen, die mit den Rollenzuweisungen einhergehen, nicht erfüllt werden können oder wenn spezifische Zuweisungen abgelehnt werden [
      • Schimank U.
      Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 5. durchgesehene Auflage.
      ].
      Ein Blick in die Forschung zeigt, dass Angehörige von Menschen mit unheilbaren Erkrankungen nicht selten relativ stabile Rollen wie die der «Co-Patientinnen bzw. Co-Patienten», «der Partnerinnen, bzw. Partner» oder aber die der «Experten bzw. Expertinnen» von Fachpersonen zugewiesen erhalten, wobei diese Rollenzuweisungen mit unterschiedlicher Integration in das Betreuungsgeschehen bzw. in Entscheidungsprozesse einhergehen können [
      • Sottas B.
      • Brügger S.
      • Jaquier A.
      • Brülhart D.
      • Perler L.
      Pflegende Angehörige in komplexen Situationen am Lebensende. Schlussbericht.
      ]. Weitaus weniger ist bis anhin dazu bekannt, wie Angehörige selbst ihre Rolle im Betreuungsgeschehen wahrnehmen und definieren [
      • McDonald C.
      • McCallin A.
      Interprofessional collaboration in palliative nursing: what is the patient-family role?
      ]. Erste Studien legen dar, dass auch bei Angehörigen von Personen mit chronischen Erkrankungen unterschiedliche Wahrnehmungen hinsichtlich ihrer Rolle existieren können [
      • Lamore K.
      • Montalescot L.
      • Untas A.
      Treatment decision-making in chronic diseases: What are the family members’ roles, needs and attitudes? A systematic review.
      ]. Nicht selten übernehmen dabei Angehörige in Entscheidungsprozessen die Rolle von «Anwälten», welche die Interessen der Erkrankten vertreten und mittels gezielter Fragen Informationen zum Behandlungsprozess erwirken [
      • Gray T.F.
      • Nolan M.T.
      • Clayman M.L.
      • Wenzel J.A.
      The decision partner in healthcare decision-making: A concept analysis.
      ].
      Angehörige sind jedoch auch dem sozialen Einfluss der an sie gerichteten Erwartungen seitens Anderer ausgesetzt. Es kann davon ausgegangenen werden, dass die Wahrnehmung dieser zugewiesenen Rollen erhebliche Wirkung auf die Zufriedenheit der Angehörigen mit der Palliativbetreuung besitzt. Stimmen Rollenerwartungen und deren Wahrnehmung überein, kann eine positive Beziehung zwischen Angehörigen und Professionellen entstehen [
      • Gray T.F.
      • Nolan M.T.
      • Clayman M.L.
      • Wenzel J.A.
      The decision partner in healthcare decision-making: A concept analysis.
      ]. Zudem gilt es in diesem Zusammenhang auch die kontextabhängigen Aspekte von Rollenzuschreibungen und –wahrnehmung zu thematisieren. Bisherige Studien nehmen kaum Bezug auf die Rollenwahrnehmungen von Angehörigen in verschiedenen palliativen Behandlungs- bzw. Betreuungssituationen. Wie erste Analysen deutlich machen [
      • Woodman C.
      • Baillie J.
      • Sivell S.
      The preferences and perspectives of family caregivers towards place of care for their relatives at the end-of-life. A systematic review and thematic synthesis of the qualitative evidence.
      ], ist davon auszugehen, dass in unterschiedlichen Versorgungskontexten, wie der allgemeinen oder der stationären Versorgung, sehr unterschiedliche Erwartungen existieren. Zu den Rollenwahrnehmungen von Angehörigen in verschiedenen palliativen Behandlungs- bzw. Betreuungssituationen ist jedoch bis dahin nichts bekannt. Ausgehend von diesem Wissensbedarf widmet sich dieser Beitrag der Frage, welche Rollen Angehörige von Patientinnen und Patienten in der Palliativversorgung aus ihrer Sicht übernehmen, und wie sich diese Wahrnehmung auf die Zufriedenheit mit der palliativen Versorgung auswirkt. In ihrer möglichen Bedeutung für diese subjektiven Wahrnehmungen der Angehörigen sollen dabei unterschiedliche palliative Versorgungskontexte (Spitäler, ambulante Versorgungskontexte, Alters- und Pflegeinstitutionen) Berücksichtigung finden. Dazu werden in einem ersten explorativen Zugang einige der zentralen Faktoren identifiziert, die sich auf die Zufriedenheit der Angehörigen mit der palliativen Betreuung auswirken, wobei auch unterschiedliche Versorgungskontexte berücksichtigt werden sollen.
      Ziel dieses Beitrags ist es, insbesondere bei Fachpersonen der Palliativversorgung ein Bewusstsein für die (oft unbewussten) Rollenwahrnehmungen von Angehörigen in der Palliativbetreuung zu schaffen sowie deren Bedeutung für die Zufriedenheit mit der Versorgung aufzuzeigen. Überdies können die Erkenntnisse dazu dienen, die kooperative Beziehung zwischen Angehörigen und Fachpersonen in der Palliativversorgung zu fördern und die Familien bei der Pflege ihrer Angehörigen zu stärken. Fragestellungen und Zielsetzungen der Analyse bilden Teil einer umfassenden Studie zu «Palliative Care Netzwerken in der Schweiz», die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP 74) «Gesundheitsversorgung» des Schweizerischen Nationalfonds in den Jahren 2017-2020 durchgeführt werden konnte (vgl. www.nfp74.ch; Projekt 16).
      Die Studie wurde von der zuständigen Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz genehmigt.

      Methodisches Vorgehen

      Methodologisch knüpft diese Pilotstudie an zentralen Prinzipien qualitativer Empirie, nämlich der Offenheit und Subjektbezogenheit von Forschung an. Die oben beschriebenen theoretischen Vorannahmen zur Bedeutung sozialer Rollen im Betreuungsprozess bilden ein «sensibilisierendes Konzept» [
      • Blumer H.
      What is Wrong with Social Theory.
      ] beim Zugang zum Feld, schränken die Offenheit der Erkundung jedoch nicht ein. Ziel der qualitativ-inhaltsanalytischen Auswertung ist es, in Form der Kategorienbildung eine erste Ordnung für die potentielle Vielfalt subjektiver Perspektive zu generieren [
      • Kuckartz U.
      Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. Auflage.
      ]. Ihren Ausgangspunkt bildet Textmaterial, das in 22 halbstrukturierten Interviews sowie einer Focus Group mit vier Geschwistern bzw. insgesamt mit 26 Angehörigen von Menschen mit unheilbaren Erkrankungen gewonnen wurden.

      Sampling

      Die Auswahl der befragten Personen bzw. Personengruppen orientierte sich an einem Vorab-Sampling. Die Datenerhebung erfolgte im Zeitraum von April 2018 bis Oktober 2019 in vier Schweizer Kantonen (Basel-Stadt, Luzern, Waadt und Tessin). Diese Kantone repräsentieren nicht nur drei Sprachregionen (französische und italienische Schweiz sowie Deutschschweiz), sondern weisen auch grosse Unterschiede hinsichtlich ländlicher und städtischer Prägungen auf. Die Angehörigen wurden mit Hilfe von Gesundheitsfachpersonen aus Hospizen, Hausarztpraxen und Mobilen Palliative Care Teams erreicht: unterstützt durch einen Informations-Flyer stellen sie den Erstkontakt zu Angehörigen her. Vor den Gesprächen wurden die Befragten über Hintergrund und Ziele der Studie informiert. Zudem wurde ihnen Anonymität und die Möglichkeit des Rückzugs aus der Studie ohne Angabe von Gründen zugesichert. Die Befragten beherrschten eine der drei häufigsten gesprochenen Schweizer Landessprachen (Deutsch, Französisch oder Italienisch) und besassen Angehörige, die sich in palliativer Betreuung befanden oder deren Versterben nicht länger als 12 Monate zurücklag. Zum Zeitpunkt der Interviews waren sechs erkrankte Angehörige am Leben. Die in Einzelgesprächen interviewten 19 Frauen (73.1%) und 7 Männer (26.9%) waren im Durchschnitt 60.1 Jahre (Standardabweichung ± 15.2) alt. In den meisten Fällen (46%) waren sie Töchter/Söhne oder Ehepartner/innen (35%). Zwei Mütter und ein Vater pflegten ihre erwachsenen Kinder und zwei befragte Frauen betreuten ein Geschwister. Von allen Teilnehmenden wurde die schriftliche Zustimmung zum Interview eingeholt; es gab keine Abbrüche der Beteiligung am Forschungsprojekt.

      Datenerhebung

      Interviews und Focus Group wurden von der Erstautorin mit Unterstützung von zwei weiteren wissenschaftlichen Mitarbeitenden im Projektteam durchgeführt; alle drei Personen besitzen psychologische Vorbildung sowie Erfahrungen im Gesundheitswesen und sind geschult in qualitativen Erhebungsverfahren. Die Interviews fanden in der Muttersprache der Angehörigen (deutsch, französisch, italienisch) und zumeist in ihrem Zuhause statt. In fünf Fällen wurden die Interviews auf Wunsch der Angehörigen in Büroräumlichkeiten von Gesundheitsorganisationen (Spital oder Spitex) durchgeführt. Die Gespräche dauerten zwischen 31 und 71 Minuten.
      Der Gesprächsleitfaden orientierte sich an zentralen Qualitätsmerkmalen der Palliativversorgung [
      • Bainbridge D.
      • Brazil K.
      • Krueger P.
      • Ploeg J.
      • Taniguchi A.
      A proposed systems approach to the evaluation of integrated palliative care.
      ] und umfasste 21 Fragen, die im Rahmen von Pretests mit 5 Personen auf ihre Verständlichkeit geprüft wurden. Erfragt wurde u.a. die Einschätzung der Angehörigen zum Einbezug in den Entscheidungs- und Betreuungsprozess (Kennen Sie den zukünftigen Behandlungsplan Ihres Familienmitglieds und sind Sie mit diesem Plan zufrieden?), zum Informationstransfer (Sind/waren Sie zufrieden mit dem Informationstransfer zwischen Versorgern und Ihnen bzw. Ihrer/m Angehörigen?), zur Versorgungskontinuität (Haben Sie das Gefühl, dass Ihr/e Angehörige/r bisher angemessen kontinuierlich betreut wurde?) und zur Patientenzentriertheit (Haben Sie das Gefühl, dass Ihr/e Angehörige/r im Zentrum aller Entscheidungen, Aktivitäten und Bemühungen des Palliativ Care-Teams steht/stand?).
      Alle Interviews wurden mit dem Einverständnis der Angehörigen aufgezeichnet. Feldnotizen wurden keine angefertigt. Die Interviews wurden von Personen, die der jeweiligen Sprache mächtig waren, vollständig und orientiert an den Transkriptionsregeln für die computergestützte Auswertung transkribiert [
      • Kuckartz U.
      Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. Auflage.
      ], und den Befragten nicht nochmals zur Prüfung oder Ergänzung vorgelegt. Die Transkriptionen von 13 Interviews in Schweizer Dialekt erfolgten in hochdeutscher Sprache, die fünf auf Französisch geführten Gespräche in französischer Sprache. Die fünf italienischsprachigen Interviews wurden von einer zweisprachigen (englisch-italienisch) Mitarbeiterin in englischer Sprache transkribiert, um sie für die auswertende Person mit ausgezeichneten Sprachkenntnissen (D/F/E) verständlich zu machen.
      Französische und englische Zitate aus den Interviews wurden in diesem Beitrag in die deutsche Sprache übersetzt.

      Datenanalyse

      Die Auswertung der Daten fand mit Hilfe von MAXQDA statt, einer Software für die computergestützte qualitative Datenanalyse [
      • Kuckartz U.
      Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. Auflage.
      ]. Die Daten wurden durch eine Person kodiert und ausgewertet. Dazu wurden die Daten zunächst deduktiv an Kategorien orientiert interpretiert, die an Fragen des Leitfadens anlehnten; im Verlauf des Auswertungsprozesses wurde das Kategoriensystem induktiv und in wiederholtem Austausch mit dem Projektteam mit weiteren zentralen Kategorien, ergänzt. Die Analyse der Daten folgte dem Vorgehen einer «Zusammenfassenden Inhaltsanalyse» nach Mayring [
      • Mayring P.
      Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken.
      ]. Dieses Verfahren ermöglicht es, Schlüsselelemente aus den Interviews regelgeleitet zu identifizieren und das Textmaterial systematisch zu reduzieren. Im Mittelpunkt der Rekonstruktion stand die subjektive Wahrnehmung der Angehörigen hinsichtlich ihrer Rolle in der Beziehung zu Gesundheitsfachpersonen wie Hausärztinnen und –ärzten, Pflegefachkräften und spezialisierten Versorgenden.

      Ergebnisse

      Aus den Interviewdaten konnten drei unterschiedliche Formen der Rollenwahrnehmung von Angehörigen im Betreuungskontext herausgearbeitet werden. Tabelle 1 bietet einen Überblick über diese Selbstwahrnehmungen der Angehörigen mit Blick auf zentrale Dimensionen einer qualitativ hochstehenden Palliativbetreuung [
      • Bainbridge D.
      • Brazil K.
      • Krueger P.
      • Ploeg J.
      • Taniguchi A.
      A proposed systems approach to the evaluation of integrated palliative care.
      ], nämlich den Einbezug in den Betreuungsprozess sowie in Entscheidungsprozesse und die Weitergabe von Informationen. Damit in engem Zusammenhang stehend konnte zudem rekonstruiert werden, in welchem Masse die Angehörigen die Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt empfanden.
      Tabelle 1Wahrnehmung der Angehörigen zu ihrer Rolle im Betreuungsgeschehen.
      AspekteAngehörige als SchutzbedürftigeAngehörige als Partnerin bzw. PartnerAngehörige als Kämpferinnen bzw. Kämpfer
      Einbezug in den Betreuungsprozess- Angehörige erleben einen nur selektiven Einbezug in die Betreuung, da sie für Fachpersonen rasch als überfordert gelten

      - Angehörigen werden Aufgaben von den Professionellen abgenommen
      - Angehörige fühlen sich von den Professionellen vollumfänglich in das Betreuungsgeschehen miteinbezogen; ihnen wird auf Augenhöhe begegnet; ihre Expertise wird explizit anerkannt und wertgeschätzt- Angehörige fühlen sich nicht willkommen und nicht in Prozesse einbezogen
      Weitergabe von Informationen- Informationen werden nur selektiv geteilt

      - Angehörige fühlen sich nicht ernst genommen

      - Informationen sind den Angehörigen zugänglich und werden von Fachleuten an sie weitergegeben

      - Informationen werden nicht selbstverständlich geteilt, sondern müssen von den Angehörigen eingefordert werden

      - Erfahrungen und Beobachtungen von Angehörigen werden nicht erfragt und/oder einbezogen
      Einbezug in Entscheidungs-

      prozesse

      - Fachpersonen beziehen Angehörige nur selektiv in Entscheidungsprozesse ein- Entscheidungen werden gemeinsam mit Angehörigen getroffen- Entscheidungen werden ohne Angehörige getroffen
      Patientenzentriert-heit der Betreuung- Bedürfnisse und Wünsche der Erkrankten stehen im Zentrum der Bemühungen der Betreuenden, aber Angehörige werden als potentielles Sicherheitsrisiko für Erkrankte betrachtet- Bedürfnisse und Wünsche der Erkrankten stehen im Zentrum der Bemühungen der Professionellen- Bedürfnisse von Fachpersonen und Institutionen werden über die Interessen der Patientinnen und Patienten gestellt

      Angehörige als «Schutzbedürftige»

      In sechs der insgesamt 23 Interviews berichten die Angehörigen von ihrem Eindruck, für Gesundheitsversorgende vor allem «schutzbedürftig» zu sein. Dabei werden gleichermassen ambulante wie stationäre Versorgungskontexte genannt. Oftmals stellt die Rolle der/des «Schutzbedürftigen» für die Angehörigen eine Gratwanderung zwischen Bevormundung und Schutz vor Überforderung dar und geht für die Angehörigen mit positiven wie auch negativen Erfahrungen sowie Bewertungen des Betreuungsgeschehens einher.
      Der Einbezug in den Betreuungsprozess ist für viele der befragten Angehörigen ein wichtiges Anliegen. Auch die Erkrankten selbst wünschen sich das Mitwirken ihrer Angehörigen, wie die Befragten mehrfach betonen. Die Angehörigen berichten dabei von Personen, die sie vor Überforderung schützen möchten oder sie auf übermässige Belastungen hinweisen, selbst wenn sie selbst die drohende Überforderung nicht (mehr) wahrnehmen konnten:«Man kommt extrem an Grenzen. (…) Und dann hat mich diese Ärztin abgefangen und gesagt: „Jetzt ist genug. Sie haben so viel gemacht, jetzt müssen wir mit einer zusätzlichen Hilfe starten.“» Partnerin, 67
      In zwei Dritteln der Fälle und - unabhängig vom Betreuungskontext - erlebten es die Befragten positiv, dass das Gesundheitspersonal sie vor zu grossen Belastungen bewahren wollte; die Zuwendung und Fürsorge wurde dankbar akzeptiert. Es werden jedoch auch negative Effekte dieser Rollenzuweisung berichtet: So bewerten zwei der interviewten Personen die Fürsorge der Professionellen etwa als Bevormundung bzw. als Eingriff in ihre Selbstbestimmung:«Da hatte glaube ich der Hausarzt mehr Sorgen, dass es daheim nicht gehe. Dass wir vielleicht irgendwann überfordert sind und hat dann versucht, uns das Hospiz schmackhaft zu machen. Das ist dann ziemlich in die falsche Röhre gekommen. (lacht) Das ist gar nicht gut angekommen.» Partnerin, 53
      In der Rolle von «Schutzbedürftigen» wird Angehörigen, so zeigen die Gespräche, überdies oftmals nur unvollständig oder zeitlich verzögert Zugang zu relevanten Informationen gewährt. Infolge der eingeschränkten Weitergabe von Informationen erleben sich manche der befragten Angehörigen nicht als «ernst genommen» («Man kann es sagen, aber ich werde nicht ernst genommen oder nicht so für (Pause) voll genommen.» Tochter, 45). Auch werden sie den Aussagen zufolge als «Schutzbedürftige» oft nur selektiv in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Dies kann insbesondere bei wegweisenden Entscheidungen sehr belastend sein. Das folgende Zitat verdeutlicht dies am Beispiel einer therapiebezogenen Entscheidungssituation:«Wir wurden eigentlich nicht mit einbezogen, wie wir das jetzt machen wollen. Es war dann einfach so, dass meine Schwester gesagt hat, sie wolle gar nichts mehr machen lassen. Wie das zustande kam, haben wir nie durchschaut oder nicht gewusst.» Schwester, 72
      Im Vordergrund steht jedoch in dieser Gruppe der Befragten eine positive Beurteilung der palliativen Betreuung. Dies schliesst neben der Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der erkrankten Familienmitglieder auch sie selbst als Angehörige ein:«Also sie haben wirklich auch bei mir immer gesagt: „Schauen Sie, wir müssen vielleicht noch schauen, dass wir hier noch etwas mehr Ihnen etwas Gutes tun können oder dass wir hier noch etwas mehr können.“» Partnerin, 68
      Selbst in Fällen in denen sich Angehörige von Gesundheitsversorgenden als Patientinnen bzw. Patienten behandelt erleben, können sie die Betreuungssituation positiv bewerten, solange sie die Intentionen der Gesundheitsfachpersonen primär als Fürsorge und im Sinne des Bemühens um Entlastung deuten können.

      Angehörige als «Partnerinnen» bzw. «Partner» der Professionellen

      Können sich Angehörige im Betreuungsgeschehen als «Partnerinnen» bzw. «Partnern» der Fachpersonen wahrnehmen, so geht dies ebenfalls oft mit einer guten Bewertung der palliativen Betreuung insgesamt einher. Dies gelingt in erster Linie dann, wenn sich die Tochter, Sohn, Partnerin/Partner, Geschwister oder der Freundeskreis eines unheilbar erkrankten Familienmitglieds mit ihren Anliegen sowie mit ihrem Wissen über die Bedürfnisse und Wünsche der Erkrankten ernst genommen fühlen - oder wenn deren Beobachtungen und Erfahrungen von den Professionellen erfragt und in den weiteren Behandlungsprozess miteinbezogen werden.«Und er nimmt einen auch ernst. Also als ich damals zu ihm bin wegen meiner Schwester und gesagt habe, dass es gar nicht mehr gut geht, hat er das sehr ernst genommen.» Schwester, 54
      Der Einbezug der Angehörigen in den Versorgungsprozess erfolgt aus Sicht der Befragten «auf Augenhöhe» etwa dann, wenn die Gesundheitsfachpersonen in Absprache mit den Angehörigen und den Erkrankten den Behandlungsplan erstellen oder nach Bedarf anpassen. Oder wenn Angehörige Betreuungsaufgaben entsprechend ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten im Betreuungsgeschehen übernehmen dürfen.
      Angehörige, die sich als «Partnerinnen» bzw. «Partner» der Gesundheitsfachpersonen erleben, beschreiben den Informationsaustausch in dieser Studie durchgängig als problemlos und transparent. Informationen zur Krankheit oder zum Behandlungsplan werden mit den befragten Angehörigen ebenso geteilt wie mit den erkrankten Personen, wenn diese ihre Zustimmung dafür gegeben haben.«Natürlich rufen der Arzt und die Krankenschwester mich und auch meine andere Tochter an, um uns auf dem Laufenden zu halten, und sie fragen uns, wie es uns geht.» Mutter, 74
      In der Rolle als «Partnerinnen» bzw. «Partner» werden Angehörige von den Fachpersonen ganz «selbstverständlich» in die Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Gemeinsam mit den Erkrankten und mit Unterstützung der Fachpersonen ist es den befragten Angehörigen möglich, einen aktiven Beitrag in Entscheidungssituationen zu leisten.«Es gab keine Entscheidung, die nicht ohne ihr und mein Einverständnis getroffen wurde. Und zwar vollumfänglich einverstanden, würde ich sagen, und einbezogen in den Entscheidungs- und Reflexionsprozess.» Partner, 63
      Für manche der befragten Angehörigen ist der Miteinbezug in die Betreuung eine Grundvoraussetzung für eine gelungene und zufriedenstellende Versorgung: «Ohne das, hätten wir gar nichts zugelassen. Aber das ist unsere Spezialität. (lacht) Wir wollten bestimmen.» Partner, 69.
      Angehörige erleben aber auch, dass ihre Rolle nicht festgeschrieben ist, sondern dass sie sich situativ aus der palliativen Betreuung zurückziehen bzw. Aufgaben delegieren können: «Aber ich denke, ich hätte diese Rolle sicher vermehrt abgegeben, wenn es länger gegangen wäre.» Tochter, 54.
      Der partnerschaftliche Einbezug der Angehörigen in das Betreuungsgeschehen beeinflusst das Erleben von Patientenzentriertheit wesentlich. Angehörige nehmen sich als wichtige Schnittstelle und «Informationsträger» zwischen dem erkrankten Familienmitglied und Fachpersonen wahr, insbesondere dann, wenn diese nicht mehr selbst Auskunft zu geben vermögen:«Es war sicher so ein Teil, das Wissen der Person zu geben, wer ist es, was war der Person wichtig? Was braucht sie und auch so ein bisschen von den Reaktionen. Was hatte sie gern? (…) Denn meine Mama konnte ja nicht mehr reden und ich war so der Informationsträger.» Tochter, 56
      Aber auch in Situationen und Settings, in denen die Erkrankten auskunftsfähig waren, stellten die befragten Angehörigen fest, dass deren Anliegen stets im Zentrum der allgemeinen Bemühungen standen: «Aber immer zuerst bei allen Entscheidungen, bei allen Fragen, bei allen Sorgen ist wirklich das, was ihn bewegt hat im Vordergrund gewesen.» Partnerin, 53.
      Das Erleben, «Partnerin/Partner» von professionellen Teams oder Gesundheitsexperten/innen zu sein, konnte in 16 von 23 Interviews mit Angehörigen herausgearbeitet werden und stellt damit das am häufigsten beobachtete Wahrnehmungsmuster dar. Es geht einher mit einem grossen Mass an Zufriedenheit mit der Palliativbetreuung und liess sich vor allem in der Betreuung zu Hause erkennen (10 Fälle). Aber auch Betreuungssituationen in Seniorenheimen (1), im Hospiz (1) oder in Spitälern mit oder ohne Palliative Care-Abteilungen (6) wurden in dieser Weise erlebt. In 13 dieser Fälle waren auf Palliative Care spezialisierte Fachpersonen auf ärztlicher wie auch pflegerischer Ebene (z.B. Mobile Palliative Care Teams) in die Betreuung involviert und trugen nach Aussagen der Angehörigen wesentlich zur partnerschaftlichen Beziehung bei.

      Angehörige als «Kämpferinnen» und «Kämpfer»

      Nehmen Angehörige sich in der Beziehung zu den Professionellen in erster Linie als «Kämpferinnen» bzw. «Kämpfer» für ihre Familienmitglieder wahr, so korrespondiert dies mit einer grossen Unzufriedenheit hinsichtlich der palliativen Betreuung. Dabei lässt sich auf Basis des Interviewmaterials erkennen, dass nicht nur die Interessensvertretung der Erkrankten und zusätzliche Informationsbeschaffung wichtige Inhalte von Auseinandersetzungen sind, sondern dass es Angehörige auch als ihre Aufgabe und Pflicht ansehen, das erkrankte Familienmitglied immer wieder von Neuem ins Zentrum der Betreuung zu rücken.
      Dieses Rollenmuster wurde von drei Interviewten in ähnlichen Versorgungskontexten wahrgenommen, nämlich im Seniorenheim (2), bei der Versorgung durch Spitexpersonal (1) und in Spitälern ohne (2) bzw. mit (1) Palliativabteilung. Dabei zeigte sich aber auch, dass sich die Rollenwahrnehmung im Verlauf der palliativen Betreuung auch ändern kann.
      Angehörige, die als «Kämpferinnen» oder «Kämpfer» für ihre Anliegen und diejenigen ihrer erkrankten Angehörigen eintreten, beschreiben ihr Vorgehen oft als stark proaktiv, um sich in den Entscheidungs- und/oder Betreuungsprozess einzubringen.«Und das macht es für mich z.T. ein bisschen schwierig oder ich muss dann so resolut werden, dass sie mich wahrnehmen. „Es ist mir ein Anliegen, dass er geduscht sein muss oder dass die Medikamente trotz allem genommen werden, obwohl ihr es jetzt nicht toll findet, aber ich bin der Meinung, dass er jetzt das braucht.» Tochter, 45
      Dieses teilweise resolut und kämpferisch wirkende Vorgehen kann die Beziehung zu Professionellen und die Zusammenarbeit in Betreuungssituationen belasten, was sich wiederum negativ auf den Informationstransfer und den Einbezug in Entscheidungsprozesse auswirken kann. Wie die Aussagen erkennen lassen, setzt zudem oft eine „Abwärtsspirale“ in der Beziehung ein, in der das Vertrauen leidet und das Handeln der Fachpersonen in Frage gestellt wird. Zuweilen fühlten sich Angehörige genötigt, den Betreuenden zu sagen, was zu tun ist, da sie deren Kompetenzen anzweifelten.«Ich, die ich weder Krankenschwester noch Ärztin bin, erkenne, dass die Wunde infiziert ist und ein Arzt sieht es nicht: das hat mich verärgert. (…) Ich sagte zu ihm: «Nehmen Sie den Verband ab und sagen Sie es mir!» Und dann sah er es sich an und begann zu erkennen, dass die Wunde infiziert war.» Tochter, 56
      Die im Zitat beschriebenen Wahrnehmungen der Situation tragen zusätzlich zu einem Vertrauensverlust auf Seiten der befragten Angehörigen bei. Sie werden zu «Bollwerken», welche sich schützend vor ihre erkrankten Eltern, Kinder, Partnerinnen/Partner oder Geschwister stellen.
      Mit Blick auf den Informationstransfer zwischen Professionellen und Angehörigen fällt die offensichtlich aktive Rolle der Befragten auf, wenn es darum geht, Informationen zur Krankheit oder weiteren Behandlung zu erhalten. Dies wird insbesondere in Versorgungskontexten wie Spitälern oder Seniorenheimen erkennbar, wo das Personal oftmals für viele Patientinnen und Patienten zugleich zuständig sind und sich deshalb längere Zeitabschnitte ergeben, in denen sie nicht am jeweiligen Krankenbett präsent sein können. Dazu das folgende Beispiel:«Nur, wenn wir gefragt und wirklich beharrt hatten und gesagt haben: „Jetzt brauchen wir etwas!” Ausser im Hospiz. Aber sonst mussten immer wir, man ist nicht auf uns zugekommen. Immer mussten wir “stupfen” (nachfragen) oder etwas abmachen, auch mit den Ärzten.» Schwester, 72
      Der mangelhafte Informationsaustausch beeinflusst auch den Einbezug der Angehörigen in Entscheidungsprozesse: Wie sich zeigt, fühlen sich diese Befragten oft zu wenig einbezogen, wenn es um Entscheidungen geht. «Als Angehöriger hatte ich manchmal den Eindruck, ich werde eigentlich nie gefragt.» Schwester, 67.
      Sehen die Befragten ihre Angehörigen nicht mehr im Zentrum der Betreuung, setzen sie sich dafür ein, sie wieder in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu rücken, wie in folgendem Beispiel deutlich wird: «Also eigentlich durch das Engagement der Betreuerin und von mir, wir haben (schmunzelt) sie in den Mittelpunkt geholt. Wie es ohne das gewesen wäre, weiss ich nicht» Tochter, 66.
      Zugleich wird in den Interviews deutlich, dass die Wünsche und Bedürfnisse der Erkrankten nicht hinreichend erfragt wurden. Die Befragten bemängelten dies insbesondere in Seniorenheimen: Hier seien Fachpersonen zwar oft mit palliativen Situationen konfrontiert, verfügten aber aus Sicht der Angehörigen selten über notwendige Zusatzausbildungen für Palliative Care. «Aber wir haben auch nie ein richtiges Gespräch gehabt, wo es nur um ihn und seine Bedürfnisse oder seine Wünsche gegangen ist» Tochter, 45.
      Die Rolle als «Kämpferin» bzw. «Kämpfer» fordert, so wird hier deutlich, von den Angehörigen viel Energie und Zeit. Beides ist jedoch in der palliativen Betreuung nicht unbegrenzt verfügbar, sondern stark limitiert. Unter diesem Gesichtspunkt kann diese Form der Rollenwahrnehmung für alle Beteiligten als kritisch betrachtet werden.

      Diskussion

      Die Analyse der Interviewdaten lässt in idealtypischer Weise drei Formen der Selbstwahrnehmung von Angehörigen in ihrer Beziehung zu Gesundheitsfachpersonen erkennen: Sie erleben es a) als Angehörige/r «schutzbedürftig» zu sein, b) als «Partnerin/Partner» zu wirken oder aber c) sie fühlen sich als «Kämpferinnen/Kämpfer» für die Interessen des Patienten/der Patientin. Wie sich zeigt, überschneiden sich dabei zum Teil die hier identifizierten Wahrnehmungsmuster mit Erkenntnissen zu den Wahrnehmungen von Professionellen im Gesundheits- bzw. Palliativbereich [
      • Sottas B.
      • Brügger S.
      • Jaquier A.
      • Brülhart D.
      • Perler L.
      Pflegende Angehörige in komplexen Situationen am Lebensende. Schlussbericht.
      ]. So schätzten sich ein Teil der hier befragten Angehörigen als «Partnerin/Partner» von Gesundheitsfachpersonen ein, was aufs Engste mit den Rollenzuschreibungen seitens der Fachpersonen korrespondiert. Und während die von beiden Seiten wahrgenommene «partnerschaftliche» Rolle der Angehörigen mit einer grossen Zufriedenheit hinsichtlich der Palliativbetreuung einhergeht, beurteilen Angehörige, die sich als «Kämpfer/innen» wahrnehmen, die Versorgung eher kritisch. Das Wahrnehmungsmuster, als Angehörige auch «schutzbedürftig» zu sein, erweist sich wiederum in seinen Konsequenzen für die Zufriedenheit mit der Palliativversorgung situativ unterschiedlich, je nach tatsächlich empfundener Bedürftigkeit.
      Auch macht die Studie deutlich: Damit Angehörige die für die Erkrankten so wichtige Unterstützung leisten können, benötigen sie zuverlässige und vollständige Informationen. In traditionell hierarchisch geprägten Organisationen wie Spitälern oder Seniorenheimen obliegt die Informationsweitergabe oft Ärztinnen bzw. Ärzten, was den Angehörigen eine Teilhabe an Entscheidungen erschwert. Behandelnde Ärztinnen und Ärzte verbringen weniger Zeit am Krankenbett als Pflegefachkräfte und treffen oft gar nicht auf die zu Besuch kommenden Angehörigen. Zusätzlich sind diese Versorgungskontexte durch grosse Betreuungsteams und wechselndes Personal gekennzeichnet. In diesen spezifischen Voraussetzungen liegt, so lassen die Resultate vermuten, auch eine zentrale Ursache für die Wahrnehmung für Anliegen der Patienten/Patientinnen «kämpfen» zu müssen. Die Vehemenz, mit der sich befragte Angehörige für das Wohl ihrer Familienmitglieder einsetzen, fällt auf und verdeutlicht, dass im Konfliktfalle auch eine Verschlechterung der Beziehung zu Fachpersonen in Kauf genommen wird. Gerade aufgrund dieser negativen Auswirkungen kann das Wahrnehmungsmuster der «Kämpfer/innen» als kritisch beurteilt werden und ist möglichst zu vermeiden oder zu korrigieren.
      Die Selbstwahrnehmung, «Partner bzw. Partnerin» des in der Palliativpflege oder –medizin tätigen Personals zu sein, leistet einen wichtigen Beitrag, damit Angehörige von Personen mit unheilbaren Erkrankungen sowohl über Zeit- wie auch Energiereserven verfügen, um eine starke Rolle im Betreuungsverhältnis wahrzunehmen. Der wechselseitige Austausch von Informationen garantiert den Einbezug wichtiger Aspekte in die Behandlung und verbessert die patientenzentrierte Betreuung. Klar ersichtliche Ansprechpersonen für pflegerische wie auch medizinische Fragen helfen den Angehörigen bei Unsicherheiten oder Unklarheiten. Die Betreuung durch ein stabiles und oftmals anzahlmässig überschaubares Team – wie es in der palliativen Betreuung zu Hause oder in Hospizen oftmals anzutreffen ist - verhilft zum Aufbau einer Vertrauensbasis zwischen Angehörigen und Personal. Diese wiederum stellt eine Grundvoraussetzung dar, damit Angehörige sich als «Partnerinnen» bzw. «Partner» im Versorgungsgeschehen erfahren können.
      Doch nicht nur die Gestaltung einer «Partnerschaft» zwischen Angehörigen und Fachpersonen erscheint wichtig, sondern auch die Wahrnehmung der Angehörigen, möglicherweise selbst «schutzbedürftig» sein zu können. Wie die Gespräche zeigen, ist es für Angehörige oft unverzichtbar, im Fachpersonen eine verlässliche Unterstützung bei der Bewältigung der alltäglichen Belastungen zu finden, dies gilt unabhängig vom Versorgungskontext. Dabei kommt es einer «Gratwanderung» gleich, Angehörige einerseits in die Palliativbetreuung einzubeziehen, sie aber andererseits nicht in die Rolle von «Mitarbeitenden» [
      • Stajduhar K.I.
      • Allan D.E.
      • Cohen S.R.
      • et al.
      Preferences for location of death of seriously ill hospitalized patients: perspectives from Canadian patients and their family caregivers.
      ] hinein zu drängen. Soziale Isolation, Erschöpfung und Hilflosigkeit sind deshalb Symptome, die pflegende Angehörige oft kennen. Zudem können Angehörige mit finanziellen Einbussen konfrontiert werden, wenn sie ihr Arbeitspensum aufgrund der Care-Arbeit reduzieren [
      • Stajduhar K.I.
      Burdens of Family Caregiving at the End of Life.
      ]. Unter diesen Bedingungen erscheint es wichtig, als Fachperson möglichen Anzeichen einer Überlastung der pflegenden Angehörigen zuvor zu kommen und Unterstützung anzubieten.
      Die hier erwähnten Faktoren, welche zur Zufriedenheit mit dem Betreuungsprozess beitragen, gelten nicht nur für den Palliativbereich, sondern für die Beziehung zwischen Gesundheitsexperten/innen und Angehörigen im Allgemeinen. Der palliative Versorgungskontext nimmt jedoch hier einen besonderen Stellenwert ein, da sich die palliative Betreuung oft Wochen bis Monate erstreckt und zugleich stets die zeitliche Begrenztheit der Beziehung durch den Tod in Sichtweite ist.

      Fazit und Ausblick

      Die demografischen Entwicklungen lassen darauf schliessen, dass die palliative Begleitung von Menschen zunehmend an Relevanz gewinnt. Damit dieser anspruchsvolle und oftmals auch schmerzliche Prozess für die Angehörigen von Patientinnen bzw. Patienten positiv gestaltet und von ihnen positiv beurteilt werden kann, ist deren Einbezug in alle Dimensionen der palliativen Betreuung unumgänglich. Gut ausgebildetes Fachpersonal mit vertieften Kenntnissen im Bereich Palliative Care kann mit dem sorgfältigen Einschluss von Angehörigen einen wesentlichen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden Palliativversorgung leisten.
      Wie sich in Gesprächen mit Angehörigen zeigt, sind sich Fachpersonen jedoch der zentralen Bedeutung von sozialen Rollen im Betreuungsgeschehen oft nicht bewusst sind. Einer Sensibilisierung für die aus dem Versorgungsalltag heraus entstehenden normativen Erwartungen kommt jedoch gerade auch mit Blick auf das Versorgungsresultat ein hoher Stellenwert zu [
      • Bainbridge D.
      • Brazil K.
      • Krueger P.
      • Ploeg J.
      • Taniguchi A.
      A proposed systems approach to the evaluation of integrated palliative care.
      ]. Der Einbezug von Angehörigen «auf Augenhöhe» leistet einen wesentlichen Beitrag, damit die Palliativversorgung von allen Beteiligten als qualitativ hochstehend erfahren wird. Der vorliegende Beitrag macht hier mit Blick auf die Palliativversorgung in der Schweiz noch einigen Handlungsbedarf deutlich. Weiterbildungen in Palliative Care sollten deshalb auch die Beziehung zu Angehörigen reflektieren und zur bewussten Gestaltung dieses Verhältnisses ermutigen. In allen Versorgungskontexten sollte darauf hingearbeitet werden, Fachpersonen mit zusätzlichen Kompetenzen für eine gelungene Kooperation mit Angehörigen auszustatten - und alle Professionen wären an dieser Stelle aktiv einzubeziehen.

      Limitationen

      Die Angehörigen von Patientinnen und Patienten wurden mit der Hilfe von Kontaktpersonen aus dem Palliativbereich erreicht. Dadurch entstand eine Vorselektion und potentiell können positiver Darstellungen in den Interviews überwogen haben. Weitere Einschränkungen der Aussagekraft dieser Studie ergeben sich durch die sprachliche Vielfalt der Interviews: Gespräche in der italienischsprachigen Schweiz wurden nicht von den Autorinnen, sondern von einer bilingual italienisch-englischsprachigen Teamkollegin durchgeführt. Die Transkriptionen erfolgten auf Englisch, um sie allen Autorinnen zugänglich zu machen. Nicht auszuschliessen, dass im Zuge der Übersetzungen Informationen im Datenmaterial verloren gingen.
      Schliesslich werden in diesem Beitrag nur Unterschiede zwischen allgemeinen und spezialisierten Versorgungskontexten ersichtlich. Nicht weiter nachgegangen werden konnte der Frage, wie und unter welchen komplexen Umständen sich die hier herausgearbeiteten Rollen der Angehörigen bzw. der Wahrnehmung potentiell modifizieren und entwickeln können. Weiterführende Analysen sollten besonders dieser Frage mit Blick auf eine positive Gestaltung der Beziehung zwischen Fachpersonen im Palliativbereich und Angehörigen nachgehen.

      Förderung

      Der Beitrag würden mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) erstellt.

      Danksagung

      Die Autorinnen danken Emily Reeves und Reka Schweighoffer für ihre Unterstützung bei den Interviews. Ein herzliches Dankeschön gilt allen befragten Angehörigen, die mit grosser Offenheit von ihren Erfahrungen während einer sehr schmerzvollen Lebensphase berichteten.

      Interessenkonflikt

      Die Autorinnen erklären, dass es sich bei diesem Manuskript um ein Originalmanuskript handelt, das noch nicht veröffentlicht wurde und derzeit auch nicht zur Veröffentlichung an anderer Stelle vorgesehen ist.
      Uns sind keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung bekannt, und es gab keine nennenswerte finanzielle Unterstützung für diese Arbeit, die ihr Ergebnis hätte beeinflussen können. Als korrespondierende Autorin bestätige ich, dass das Manuskript von beiden genannten Autorinnen gelesen und zur Veröffentlichung freigegeben wurde.

      Autorenschaft

      Eveline Degen Jermann: Konzeptualisierung, Datenerhebung, Datenauswertung, Methodik, Software, Schreiben: ursprünglicher Entwurf
      Brigitte Liebig: Konzeptualisierung, Akquisition von Geldern, Projektverwaltung, Ressourcen, Supervision, Validierung, Schreiben: Überprüfung & Bearbeitung

      Literatur

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