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„Es ist, wie in einer Kapsel zu sein.“ Wie Personen über 70 Jahren eine Hör- und Sehbeeinträchtigung erkennen und reflektieren - Teilergebnisse aus dem Stufenmodell KoRes
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Departement Gesundheit, Institut für Pflege, Winterthur, SchweizPrivate Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik UMIT, Department für Pflegewissenschaft und Gerontologie, Institut für Pflegewissenschaft, Hall in Tirol, Österreich
Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik UMIT, Department für Pflegewissenschaft und Gerontologie, Institut für Pflegewissenschaft, Hall in Tirol, Österreich
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Departement. Gesundheit, Institut für Public Health, Winterthur, SchweizTe Herenga Waka - Victoria University of Wellington - Te Herenga Waka, Wellington Faculty of Health, Wellington, New ZealandThe University of Western Australia, UWA Medical School, Nedlands, Western Australia, AustraliaCurtin University, Curtin Medical School, Bentley, Western Australia, Australia
Eine Hörbeeinträchtigung mit einem gleichzeitigen Verlust des Sehens, welche die Ausübung von Alltagsaktivitäten negativ beeinflussen kann, ist insbesondere bei den über 70-Jährigen anzutreffen. Vorliegende Studien zeigen, dass eine gleichzeitige Hör- und Sehbeeinträchtigung Auswirkungen auf die Sicherheit im häuslichen Umfeld hat. Für die Planung von pflegebezogenen Massnahmen werden Erkenntnisse darüber benötigt, wie Personen Hör- und Sehveränderungen in ihren Alltag integrieren.
Methoden
Ein qualitatives Verfahren, welches mit quantitativen Methoden ergänzt wurde („Concurrent Embedded Strategy“). Orientiert am Verfahren der Grounded Theory wurden leitfadengestützte Interviews mit hör- und sehbeeinträchtigten Personen (n = 46) über 70 Jahren sowie eine Fragebogenerhebung dieser Personengruppe zur Bewältigung ihres Alltags durchgeführt.
Ergebnisse
Im Rahmen ihres Verarbeitungsprozesses durchlaufen Personen mit einer Hör- und Sehbeeinträchtigung drei Stufen, die mit dem „Kommunizieren können“ eng verbunden sind. Es wird ein Teilergebnis des Modell KoRes vorgestellt. Der vorliegende Artikel fokussiert auf die ersten beiden Stufen aus diesem Modell: „Diagnose“ und „Reflexion“.
Schlussfolgerung
Hör- und sehbeeinträchtigte Personen verhalten sich auf den ersten beiden von insgesamt drei Stufen in Bezug auf die Verarbeitung ihrer Beeinträchtigungen reaktiv. Sie sind auf Hilfe durch ihr Umfeld angewiesen, um diese Veränderungen des Hörens und Sehens abzuklären und sich mit deren Ursachen auseinanderzusetzen.
Abstract
Introduction
Combined hearing and vision impairment, which can negatively affect the performance of activities of daily living, is particularly prevalent in those over 70 years of age. Existing studies show that this dual sensory impairment has implications for safety in the home environment. Insights into how individuals integrate hearing and vision changes into their daily lives are needed for planning care-related interventions.
Methods
A qualitative method was used supplemented with quantitative methods (“Concurrent Embedded Strategy”). Based on the grounded theory approach, we conducted guided interviews with hearing- and vision-impaired individuals aged 70 years and over (n = 46) as well as a questionnaire survey on how they cope with their daily lives.
Results
As part of their processing, individuals with hearing and visual impairments go through three stages that are closely linked to “being able to communicate.” A partial result of the KoRes model is presented. This article focuses on the first two stages of this model: “diagnosis” and “reflection”.
Conclusion
People with dual sensory impairment behave reactively on the first two of a total of three stages with regard to the processing of their impairments. They need a supportive environment to be able to clarify these changes in hearing and vision and come to grips with the underlying causes.
Gegenwärtig erfahren weltweit mehr als 1,5 Milliarden Personen in ihrem Leben eine Verschlechterung im Hören, von denen mindestens 430 Millionen Personen pflegebezogene Unterstützung benötigen. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation werden bis zum Jahr 2050 fast 2,5 Milliarden Personen von Hörverlust betroffen sein [
]. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBlind) geht davon aus, dass in der Schweiz rund 57.000 Personen mit einer Hörsehbeeinträchtigung gibt [
In der professionellen Pflege werden Hör- und Sehbeeinträchtigungen oft unterschätzt, obwohl Pflegefachpersonen erste Ansprechpartner für Personen sind, die im höheren Lebensalter zuhause auf Hilfe angewiesen sind. Hörverlust beschleunigt den kognitiven Abbau und damit die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken [
] zeigen, dass für hör- und sehbeeinträchtigte Personen mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit auch psychisch beeinträchtigt sind. Betroffene können sich energielos fühlen und Mühe haben, im funktionalen, sozialen und psychischen Bereich Alltagsherausforderungen zu bewältigen [
]). Hörbeeinträchtigte können Wörter beim Artikulieren verschlucken, wodurch Missverständnissen entstehen können; das Führen von Telefonaten ist erschwert; wiederholtes Nachfragen der Mitmenschen kann zu Scham und führen [
Gething L. Ageing with long-standing hearing impairment and deafness. International Journal of Rehabilitation Research, 23(3), 209-215. doi: 10.1097/00004356-200023030-00011. PMID: 11131623.
Schwerhörigkeit mit Behinderung bezieht sich auf einen Hörverlust von mehr als 40 Dezibel (dB) auf dem besser hörenden Ohr bei Erwachsenen und mehr als 30 dB auf dem besser hörenden Ohr bei Kindern. Ein normales Gehör bezieht sich typischerweise auf eine Hörschwelle von 20 dB oder besser auf beiden Ohren [
Vision Loss Expert Group. Magnitude, temporal trends, and projections of the global prevalence of blindness and distance and near vision impairment: a systematic review and meta-analysis.
]: Presbyopie, Katarakt, Glaukom, Hornhauttrübungen, diabetische Retinopathie und Trachom. Treten Hör- und Sehbeeinträchtigungen gemeinsam auf, sind die Ursachen oft unterschiedlich und altersbedingt. Die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) geht davon aus, dass Umweltfaktoren einen Einfluss auf alle Komponenten von Hör- und Sehbeeinträchtigungen haben können [
WHO, 2005. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Genf, Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information.
DIMDI WHO- Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen.2005;
]. Lange fehlten in der Schweiz pflegebezogene Daten über die Situation hochaltriger Personen, die zuhause leben. Erstmal wurde in der Schweiz eine Studie zur Gesundheits,- Wohn- und familialen Situation von im häuslichen Bereich lebenden Personen über 80 Jahren veröffentlicht [
]. In der Studie Spitex Plus (n = 461) konnte belegt werden, dass mehr als ein Drittel der eingeschlossenen Personen (n = 191) von einer Sehbeeinträchtigung und fast ein Drittel (n = 129) von einer Hörbeeinträchtigung betroffen waren. Sie zeigte auch, dass nur ein Drittel der Befragten eine jährliche ärztliche Augenkontrolle wahrnimmt, weniger als 30% gehen jährlich zu einem Optiker. Über 80% der Befragten gaben an, dass sie keinen Ohrenarzt besuchten. Fast alle Personen nutzten Hilfsmittel wie Lupe oder Brille (n = 426). Durch einen Test zur Früherkennung von Augenerkrankungen konnten bei einem Drittel der befragten Personen Veränderungen angezeigt werden (n = 141), bei der Hörfähigkeit waren es im rechten Ohr 28% und im linken Ohr 30%. Die Studienresultate zeigten ebenso, dass Personen über 80 Jahre mehrheitlich in Altbauwohnungen leben, häufig in Mehrfamilienhäusern, was deutlich macht, dass diese Population von Unfallgefahren im direkten Wohnumfeld betroffen ist.
In der Studie Spitex Plus konnte nicht aufgezeigt werden, wie sich Beeinträchtigungen von Personen mit gleichzeitigen Problemen im Hören und Sehen im Alltag auswirken. Vor diesem Hintergrund entstand das vorliegende Forschungsprojekt. Da Pflegeexpertinnen und Pflegeexperten Advanced Nursing Practice (ANP) häufig in erster Instanz maßgeblich dazu beitragen können, dass hör- und sehbeeinträchtigte Personen so lange als möglich in ihrem persönlichen Umfeld autonom und unabhängig leben können, ist es unverzichtbar, die Lebenswelt hör- und sehbeeinträchtigter Personen aus deren persönlicher Sicht zu beschreiben. Informationen darüber, wie Betroffene ihren Alltag gestalten, sind eine Voraussetzung dafür, dass individuelle Bedürfnisse verstanden werden und aus der Perspektive Betroffener eine Unfallprävention systematisch geplant werden kann. Durch Kenntnisse über die subjektive Sichtweise hör- und sehbeeinträchtigter Personen (70 + Jahre) im eigenen Haushalt sollte die Möglichkeit gegeben werden, Umwelten so anzupassen, dass trotz Hör- und Sehbeeinträchtigung ein autonomes Leben möglich ist. Daher wurde explorativ der Frage nachgegangen, wie Personen im höheren Lebensalter den Alltag gestalten, um sich sicher zu fühlen. Ziel war es deshalb, Empfehlungen für ein Pflegeberatungsangebot zu erarbeiten, welches dazu dient, Personen im höheren Lebensalter in der Alltagsgestaltung zu unterstützen.
Methoden
Dieser Arbeit liegt das Mixed Method Studiendesign der „Concurrent Embedded Strategy“ zugrunde [
]. Mithilfe des Verfahrens der Grounded Theory wurde anhand von reichen Daten ein breiter Blick auf den Forschungsgegenstand ermöglicht. Die Grounded Theory ist ein Verfahren sozialwissenschaftlicher Hermeneutik, d.h., des Deutens und des Auslegens von Texten und Symbolisierungen mit dem Ziel, aus Daten eine gegenstandsbegründete Theorie abzuleiten [
Gleichzeitig wurden quantitative Daten wie Informationen über die Funktionsfähigkeit und Selbstständigkeit durch den Einsatz der Older Americans Resources and Services (OARS-IADL) erhoben [
OARS-IADL (Older Americans Resources and Services Scale-Instrumental Activities of Daily Living), in Physical Rehabilitation outcome measures: A guide to enhanced clinical decision making.
Canadian Physiotherapy Association.2002; : 182-185
]. Nach Studienabschluss wurden die qualitativen Daten mit den berechneten Häufigkeiten verglichen, um die Zusammensetzung der Studienpopulation interpretieren zu können.
Auswahl und Rekrutierung der Teilnehmenden
Ziel war es, 60 Einzel- oder Paarinterviews mit Personen zu führen, die von einem gleichzeitigen Verlust im Hören und Sehen betroffen waren. Da in der Schweiz kaum verlässliche Studienergebnisse über die Alltagssituation von Personen über 80 Jahren existierten, wurde das Einschlusskriterium auf 70 + Jahre festgelegt.
Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte von September 2013 bis Februar 2016 mehrheitlich über den Verband pro audito schweiz, einer Organisation der Selbst- und Fachhilfe für Personen mit Hörproblemen und deren Angehörige. Hier wurden im Rahmen von acht verschiedenen Verbandstreffen die Studie vorgestellt und um Teilnahme geworben. In verschiedenen Fachzeitschriften und auf Facebook wurden Anzeigen und Fachbeiträge zur Information über die Studie publiziert. Es fand eine Koordination mit verschiedenen Beratungsstellen statt (Zentrum für Gehör und Sprache, Sozialberatung SZB, Beratungsstelle für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen). Alle Teilnehmenden mussten in der Lage sein, selbstständig ihre Einwilligung zur Studienteilnahme und zur Datenerhebung zu geben.
Als Einschlusskriterien wurden als Grenzwerte eine Hörbeeinträchtigung von mindestens 35% auf einem Ohr 35% Hörbeeinträchtigung und eine Sehbeeinträchtigung mit einem Visus von unter 1,0 festgelegt (Sehleistung unter 100%). Personen mit einem Hörverlust von 35% erhielten zwischen 2014 und 2016 in der Schweiz von der Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV) einen Pauschalbetrag für eine Hörgeräteversorgung. Die Teilnehmenden sollten zudem über 70 Jahre alt sein und zu Hause leben. Insgesamt nahmen 46 Personen an der Studie teil, mehrheitlich Frauen (57 %), aus neun deutschsprachigen Kantonen der Schweiz. Keine der Personen wurde im Alltag von einem Pflegedienst unterstützt. Alle Personen lebten selbstständig allein oder mit der Ehepartnerin/dem Ehepartner zusammen. Der Altersdurchschnitt betrug 78,4 Jahre (SD ± 5,3, Min.-Max. 70–87 Jahre). Zweiundfünfzig Prozent der Teilnehmenden gaben an, mit ihrer Ehepartnerin/ihrem Ehepartner zusammenzuleben; alle anderen lebten allein. Bis auf eine Person gaben alle an, unterstützende Personen im Alltag zu haben. In 24 Fällen wurden die Ehepartnerin/der Ehepartner, das eigene Kind (n = 6), Freunde (n = 3), Geschwister (n = 1) sowie andere nicht näher beschriebene Personen (n = 11) genannt.
Datensammlung
Es wurden 42 leitfadengestützte Interviews geführt, die zwischen 60 und 90 Minuten dauerten. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Interviews durch die Erstautorin durchgeführt, die auch das Datenmanagement verantwortete. Jedes Interview wurde mit Informationen zum Projekt sowie zum Ziel und Zweck der Untersuchung eröffnet. Vor dem Interview wurden durch einen vorgefertigten Fragebogen demografische Daten aufgenommen. Die Angaben bezogen sich auf Alter, Geschlecht, Zivilstand, Ausbildung sowie auf den zuletzt ausgeübten Beruf und die selbstempfundene finanzielle Situation, ferner auf die Hör- und Sehbeeinträchtigung sowie auf Art und Dauer des Einsatzes von Hilfsmitteln. Im Rahmen der ersten Konzeptualisierungen der Daten wurden die Leitfragen angepasst, was dazu führte, dass nach den ersten Interviews gezieltere Fragen zur Lebenssituation gestellt werden konnte. Die digital aufgezeichneten Interviews wurden unter Berücksichtigung des Datenschutzes ins Hochdeutsche transkribiert und hochschulintern archiviert. Vor und nach jedem Interview wurden Feldnotizen und Memos festgehalten, um eine zeitnahe Integration in die Datenanalyse zu gewährleisten.
Erfassung der Unterstützung im Alltag
Die OARS-IADL wurde verwendet, um das Ausmass von benötigter Hilfe bei Hör-Seh-Beeinträchtigten über 70 Jahren bei grundlegenden und instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens zu erfassen. Die OARS-IADL unterscheidet zwischen dem funktionellen Status, beispielsweise der aktuellen Ausübung einer Aktivität, und der Funktionsfähigkeit, d. h., der Kapazität, eine Aktivität oder Funktion auszuüben. Beispiele dafür sind die Essenszubereitung, die Medikamenteneinnahme, das Ankleiden und das Telefonieren. Ebenso soll die funktionelle Gesundheit, respektive die (Un-)Abhängigkeit bei den Aktivitäten sichtbar werden, die es einerseits ermöglichen, im hohen Alter zu Hause zu leben [
] und andererseits Rückschlüsse auf die Partizipation zulassen. Nach den Interviews wurde mit den Teilnehmenden ein Fragebogen ausgefüllt. Die Skala umfasst 15 Items. Vierzehn Items werden auf einer 3-stufigen Likert-Skala gemessen (2 = ohne Hilfe, 1 = mit etwas Hilfe, 0 = nicht im Stande, eine Aktivität/Funktion auszuüben). Ein Item fragt nach vorhandenen Unterstützungspersonen. Der berechnete Mittelwert kann dabei auf einer Skala zwischen 0 = „vollkommen abhängig“ und 28 = „vollkommen selbstständig“ liegen. Erreichte Werte unter 10 bedeuten sehr eingeschränkte Aktivitäten.
Datenanalyse
Die Analyse der Interviews erfolgte im ersten Schritt mit dem Initial Coding. Nach ersten Konzeptualisierungen der Daten folgte das Focused Coding [
]. Der Analyseschritt des Axial Codings sowie des Theoretical Codings fand im regelmässigen Austausch mit insgesamt sieben Personen statt; einer wissenschaftlichen Mitarbeitenden, drei Forschenden, sowie drei Studierenden aus dem Masterstudium in Pflege. Die drei Studierenden waren vor allem an der Datenanalyse beteiligt, indem sie jeweils separat Inhalte analysierten, die dann mit den Ausarbeitungen der Erstautorin verglichen und diskutiert wurden. Die Objektivitätskontrolle basiert auf den regelmässigen Austausch der Mitglieder im Projektteam (n = 4). Die Analyse bewegte sich im Wechsel (Constant Comparison), indem Fragen an die Daten formuliert und aus diesen Daten wiederum Antworten auf diese Fragen gegeben wurden. Dieser Prozess wurde durch das Datenverarbeitungsprogramm ATLAS.ti 7 unterstützt.
Die quantitative Datenanalyse erfolgte mittels deskriptiver Statistik unter Anwendung des statistischen Datenverarbeitungsprogramm SPSS 20.0.
Ethische Überlegungen
Die Studie wurde von der Kantonalen Ethikkommission in Zürich bewilligt (KEK-ZH-Nr. 2014-0335). Die Teilnahme an der Studie war freiwillig. Die Teilnehmenden konnten jederzeit ohne Begründung und ohne persönlichen Nachteil von der Studie zurücktreten. Dem Recht auf Selbstbestimmung wurde durch eine informierte Zustimmung entsprochen, die sowohl mündlich als auch schriftlich und ggf. unter Einbezug der Familienangehörigen erfolgte.
Ergebnisse
Aus den Ergebnissen wurde ein Stufenmodell entwickelt, das abbildet, wie sich der Alltag von hör- und sehbeeinträchtigten Personen über 70 Jahren verändert (vgl. Abb. 1).
Anhand der qualitativen Daten konnte interpretiert werden, dass die Teilnehmenden im Rahmen ihrer Verarbeitung der Hör- und Sehbeeinträchtigung drei Stufen durchlaufen: 1. Stufe: „Der Alltag verändert sich“ (Diagnose); 2. Stufe: „Sich mit der Veränderung des Hörens auseinandersetzen“ (Reflexion); 3. Stufe: „Das neue Hören integrieren“ (Translation). Die Kernkategorie „Kommunizieren können“, die mit jeder der drei Stufen in Verbindung steht, zeigt die Bedeutung der Kommunikation für die Bewältigung des Alltags der Teilnehmenden.
Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Hörbeeinträchtigung von den Teilnehmenden wesentlich höher gewichtet wird als die Sehbeeinträchtigung. Die durchschnittliche Hörbeeinträchtigung für beide Ohren betrug 68% (SD ± 22,9). Vierundvierzig Personen gaben an, deshalb ein Hörgerät zu tragen. Das beeinträchtigte Sehvermögen zeigte sich darin, dass als häufigste Hilfe im Alltag das Tragen einer Brille genannt wurde (n = 45). Zusätzlich nutzten acht Personen eine Lupe. Andere Alltagshilfen waren Spezialtürglocken, -wecker, -telefone (inklusive Handy mit Text- und/oder Sprachfunktion), Kopfhörer, Tablet/PC und Vergrösserungsbildschirme. Nur zwei Personen konnten den Verlust der Sehfähigkeit nicht mit einer Brille kompensieren. Die Analyse der quantitativen Daten zeigte, dass die Teilnehmenden trotz ihrer gleichzeitigen Hör- und Sehbeeinträchtigung selbstständig und weitgehend unabhängig in der Lage waren, grundlegende und instrumentelle Aktivitäten im täglichen Leben ohne Hilfe auszuführen. Dies zeigte sich in der OARS-IADL durch eine hohe durchschnittliche Punktzahl von 25,7 Punkten (SD ± 2,8, Median 27, Min.-Max. 15–28), OARS-IADL: 28 = vollkommen selbstständig). Einundsechzig Prozent der Teilnehmenden erreichten 27 oder 28 Punkte auf der OARS IADL. Vor dem Hintergrund der quantitativen Daten kann die Studienpopulation als selbstständig in der Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens bezeichnet werden.
Präsentation des Stufenmodells
Der vorliegende Artikel beschreibt die Erkenntnisse zu den ersten beiden Stufen und fokussiert dazu das Wissen über die Abhängigkeiten von den Lebensaktivitäten und über die Unfallgefahren im eigenen Umfeld. Ergebnisse zur Stufe der Translation, die Anpassungsleistungen sowie Erkenntnisse über das subjektiv erlebte Informations- und Unterstützungsbedürfnis darstellt, finden sich in einer weiteren Publikation (Autoren dieser Studie, in Bearbeitung).
1. Stufe: „Der Alltag verändert sich“ (Diagnose)
Stufe 1 im KoRes-Modell beschreibt aus Sicht der Teilnehmenden den Alltag, in dem sie sich vor allem durch das veränderte Hören beeinträchtigt fühlen. Für den Zeitpunkt des Bewusstwerdens der Hörbeeinträchtigung sowie der Diagnosestellung lässt sich in dem Studiensample kein einheitliches Muster finden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Wahrnehmung des veränderten Hörens unterschiedlich gestaltete. Die Interviews zeigen im Hinblick auf die erste Kategorie, dass ein Unterschied zwischen Personen besteht, die Taubheit oder eine plötzliche Hörbeeinträchtigung erfahren, und Personen, die im Laufe ihres Lebens eine Hörbeeinträchtigung entwickeln. Der Umgang mit der Hörbeeinträchtigung hängt vom Beziehungen verändern sich ab und davon, welche Hilfen die Teilnehmenden von ihrer Umwelt erhalten. Wenn Personen merken, dass sie schlechter hören, haben sie zuvor längerer Zeit den Hörverlust nicht bewusst wahrgenommen und sich erst durch die Reaktionen anderer mit diesem auseinandergesetzt:„… es war einmal eine Dame, die hat sogar reklamiert, dass der Fernseher unten zu laut ist, gell, sie hat das oben gehört und dann ist mir das auch klargeworden und ich habe dann ja immer höher die Lautstärke einstellen müssen.“ (P77: 37_160_77:1, 155).
In der Regel ist das nahe Umfeld, das Betroffene auf die Veränderung aufmerksam macht. Eine Teilnehmerin berichtete davon, dass sie immer glaubte, ihre Katze könne nicht miauen, da sie diese nie hörte. Bis zu dem Zeitpunkt des Bewusstwerdens, häufig durch andere darauf angesprochen, versuchten sich die Teilnehmenden unterschiedlich an die Veränderung anzupassen. Die Teilnehmenden schilderten ihre Mühe, Sprachinhalte in grösseren Gruppen zu verstehen, was dazu führt, dass sie sich von Veranstaltungen fernhielten oder genau abwägten, an diese teilzunehmen:„Ja, es geht eigentlich immer los, wenn viele Leute beieinander sind, oder einfach, wenn Lärm ist, dann ist es sofort weniger gut gewesen mit dem Hören.“ (P56: 17_0180_ 56:5, 162).
Wenn die Teilnehmenden sich daran erinnern, wie die Hörbeeinträchtigung angefangen hat, wird deutlich, dass sie nach einer Ursache der Beeinträchtigung gesucht hatten. Einige der Teilnehmenden berichten davon, wie sie im Rahmen einer Routineuntersuchung erfahren haben, dass sie auf einem Ohr nichts hörten. Entsprechend erlebten sie den Umstand als einen Schock. Eine der Teilnehmenden zog sich daher aus ihrem Berufsleben zurück, da sie den Verlust des Hörens auf einem Ohr als Lehrerin nicht verantworten wollte:„Äh ich wollte nicht, im Älterwerden, eine alte Lehrerin sein, die nur auf einem Ohr hört, das gibt es nicht […]. Da habe ich gedacht, das wäre vielleicht als Lehrerin noch gut, Ablesekurse geben. Und habe mich ein wenig erkundigt. Zuerst hiess es, die Lehrerinnen, die diesen Kurs machen, müssen ein absolut gutes Gehör haben. War das auch gerade vorbei.“ (P 2:2:27, 248).
Hören zu können, wurde von den Teilnehmenden gleichgesetzt mit Dazugehören und Teilhaben. Fehlt das „hören können“, war dies auch ein Grund, sich zurückzuziehen von gesellschaftlichen und beruflichen Aktivitäten:„Weihnachten spielten wir das Gleiche (von Ohr zu Ohr oder Weitersagen, Anm.) und da bin ich erschrocken. Und hielt mir das andere Ohr zu und sagte: Sag es noch einmal. Da habe ich es gewusst. Ich wusste aber nicht, was passiert ist, aber ich; brutal oder? Dann habe ich mich aber gleich beim Ohrenarzt angemeldet und konnte dann auch gleich hingehen. Und dann sagte er: Da kann man nichts mehr machen, es ist zu spät. Sie haben einen Hörsturz.“ (I_29_185).
Mehrheitlich haben die Teilnehmenden Veränderungen der Hörfähigkeit zufällig bemerkt und erst auf Anraten ihrer Umgebung die Hörschwierigkeit abklären lassen.
2. Stufe: Sich mit der Veränderung des Hörens auseinandersetzen (Reflexion)
Die Teilnehmenden berichteten in den Interviews, dass die Veränderung des Hörens mit einem veränderten Sozialleben einhergegangen ist. Die Teilnehmenden erlebten eine Abhängigkeit, in der sie sich aufgrund des Hörverlustes unsicher fühlten. In der Situation des Reflektierens hoffen sie, das alte Hörvermögen durch Hilfen wiederzuerlangen. Diese Stufe beinhaltet auch, dass die Teilnehmenden die soziale Veränderung, die mit dem Hörverlust einhergeht, besonders in der Paarbeziehung reflektieren und ihr Hörvermögen neu gewichten. Eine veränderte Kommunikation kann das Gefühl, sich peinlichen Situationen ausgesetzt sein, fördern, insbesondere, weil Wörter nicht oder Sätze oberflächlich verstanden und die Inhalte nicht wiedergegeben werden können. Wenn Wörter nicht verstanden werden, ist die Kommunikation erschwert. Die Teilnehmenden berichteten, dass sie sich nicht wahrgenommen fühlten. Das Hören wurde als eine bewusste Aktivität wahrgenommen, die angestrengt hat und dazu führte, dass Teilnehmende sich auch bewusst waren, dass Missverständnisse entstehen konnten:„Hören ist eigentlich […] fast ein passiver Vorgang, man hört einfach. Und wenn Sie nichts hören, ist das Verstehen ein aktiver Vorgang, eine Anstrengung. Ich muss zuerst einmal verstehen, was der sagt, also ich muss denken, was heisst jetzt das. Dann muss ich begreifen, was er gesagt hat, und dann muss ich überlegen, was ich als Antwort geben soll. Darum sagt man immer bei den Hörbehinderten, die sind ‚gaga‘ bis die phhhhh, aber es geht einfach länger, der hat eine lange Leitung, logisch. Bei einem Hörenden geht das automatisch.“ (P68: 30_1100).
Die Hoffnung auf ein Wiedererlangen des alten Gehörs war für die Teilnehmenden häufig mit einer langen Leidenszeit verbunden. In diesem Zusammenhang bestanden Erwartungen an Beratende, gleichzeitig aber auch die Angst vor einer weiteren Verschlechterung des bestehenden Gehörs, während der Sehverlust nur von zwei Teilnehmenden thematisiert wurde. In den Interviews berichteten die Teilnehmenden davon, wie sich das Akzeptieren des neuen Hörens gestaltete. Vor allem die Geschwindigkeit des Gehörten war mit dem veränderten Hören ein wichtiges Thema. Sie entscheidet darüber, ob Hörbeeinträchtigte folgen können und sich integriert fühlten.„Es geht nicht mehr so rasch mit dem Aufnehmen und dann wird man müde und auf einmal mag man nicht mehr. Und ich meine, was da im Fernseher kommt, das kann einem ja auch gleich sein, das ist ja gar nicht immer so wichtig. Nein, wirklich nicht. Aber es gibt manchmal auch Sachen, die man wirklich gern hört.“ (P40: 24_0150).
Andererseits erfordert das bewusste Zuhören eine hohe Konzentration, damit das Gesagte verstanden werden konnte, was dazu führte, dass Teilnehmende schneller ermüdeten:„Das bedeutet, dass ich Achtung geben muss: Höre ich die Uhr? Oder verstehe ich noch, was sie im Radio reden? Oder plätschert es einfach los. Einfach das bedeutet für mich: Ich muss mich ANSTRENGEN, KONZENTRIEREN.“ (P40: 24_0150).
In den Gesprächen mit den Teilnehmenden wird die Angst vor einer Verschlechterung des vorhandenen Gehörs deutlich, insbesondere dann, wenn die Teilnehmenden von weiteren Beeinträchtigungen betroffen waren oder die Sorge bestand, eine Verschlechterung durch diese anderen Beeinträchtigungen zu erfahren. In diesem Zusammenhang haben sich die Teilnehmenden gefragt, ob dies auch Auswirkungen auf den Hörverlust hat. Die Teilnehmenden reflektierten die eigene Veränderung und die Veränderung in der Paarbeziehung. Sie erinnern sich daran, wie sie sich verändert haben, wie sie in der Kommunikation achtsamer geworden sind. Sehr prominent erscheinen die Auswirkungen der Hör- und Sehbeeinträchtigung auf die Paarbeziehung sowie auf das Familienleben, weil sich hier Beziehungen verändern und die Auswirkungen in der Interaktion deutlich werden. Vor allem hörbeeinträchtigt zu sein, bedeutet, dass die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt ist, wenn sich das Umfeld nicht auf die Beeinträchtigung einstellt. Ein Kinobesuch wurde nach den Aussagen der Teilnehmenden uninteressant, wenn der Saal und die Technik nicht auf das veränderte Hören eingestellt waren. Andererseits erforderte die Beeinträchtigung des Hörens eine Anpassung an die Umwelt:„Das grösste Problem wäre eigentlich das Telefonieren. Ich habe das Problem schon im Geschäft gehabt, dass ich am Anfang so einen Hörapparat gehabt habe. Zum Telefonieren musste ich immer so speziell den Hörer halten, das war schwierig. Und jetzt muss ich nicht mehr so viel telefonieren.“ (P 6: 15_440_ 6:11, 196).
Hör- und sehbeeinträchtigte Personen, die in einer Partnerschaft leben, heben die Bedeutung der Unterstützung des Partners hervor. Besonderen Stellenwert hat die gesellschaftliche Integration, die durch die Unterstützung des Partners erfolgt. Zum Beispiel, wenn der Partner darauf hinweist, wer gerade gesprochen hat:„Ich frage dann meine Frau. Aber ja, es ist, wenn es manchmal schnell geht, dann habe ich keine Zeit, dann frage ich nachher meine Frau: Du, wer war das?“ (P 2: 16_424_434_261).
Die Unterstützung durch die Partnerin, den Partner kommt in den Interviews stark zum Ausdruck und kann als ein zentrales Element in der Alltagsgestaltung von hör- und sehbeeinträchtigten Personen angesehen werden:„Zusammen haben wir drei Ohren. Paare können die Beeinträchtigung im Hören in den Alltag integrieren, wenn sie sich gut verstehen: Und ich sehe […] in der Haushaltung nicht mehr gut, ich suche oft. Und mein Mann hilft mir dann suchen.“ (I_7, 225).
Die Teilnehmenden haben erfahren, dass sich die Beziehungen veränderten, weil sich die Kommunikation veränderte. Sie schilderten, dass sie nur noch bedingt teilhaben konnten, weil sie in der Gesellschaft nicht alles verstehen konnten. Schlimm wurde es vor allem von einer Frau erlebt, deren Mann von einem Hör- und Sehverlust betroffen war. Sie bedauerten im Gespräch oder teilten dies vorher mit, dass sie Mühe damit haben, ihren Mann so verändert zu sehen:„Es ist, wie in einer Kapsel zu sein, nicht dabei sein zu können, ausgegrenzt sein, als wenn es eine Kugel gibt, in der sich alles abspielt, und man nicht dazugehört.“ (P 1: 1:123, 380).
Die Auseinandersetzung des Hörens muss in Verbindung mit der Ursache des Hör- und Sehverlustes verstanden werden.
3. Stufe: Translation
In der dritten Stufe der Translation geht es darum, das neue Hören in den Alltag zu integrieren. Hierbei schildern die Teilnehmenden einen Prozess, indem sie sich eher aktiv oder eher reaktiv verhalten, was sich anhand von Ressourcen und Risikofaktoren beschreiben lässt. Das Agieren und das Reagieren wechseln sich dabei ab, sie stehen in einem Kontinuum (vgl. Autoren dieser Studie in Bearbeitung).
Diskussion
Ziel der vorliegenden Studie war zu beschreiben, wie Personen über 70 Jahre ihre Hör- und Sehbeeinträchtigung im Rahmen des KoRes-Modells erkennen und reflektieren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Alltagsbewältigung von Teilnehmenden von der Ursache der Beeinträchtigung abhängt. Wenn der Hörverlust aufgrund eines höheren Alters auftritt, verläuft dieser meist schleichend. Diese Entwicklung wirkt sich auf den Alltag aus und begünstigt, dass sie sich von ihren Alltagsaktivitäten zurückziehen, was sich auch in anderen Studien zeigt [
]. Die Interaktion mit anderen Personen verändert sich hierdurch, insbesondere die Interaktion in der eigenen Familie, gleichzeitig beeinflusst sie die Abhängigkeiten in der Lebens- und Wohnsituation der Teilnehmenden [
]. In den Stufen der Diagnose und der Reflexion weist das Verhalten von hör- und sehbeeinträchtigten Personen ein reaktives Kommunikationsverhalten hin, was bedeutet, dass Veränderungen im Hören und Sehen für einige Zeit unreflektiert bleiben. Währenddessen die ersten beiden Stufen reaktiv stattfinden, verhält es sich bei der Stufe der Translation entgegengesetzt. Abhängig von Ressourcen und Risikofaktoren, können die Umgebung und insbesondere auch Pflegefachpersonen dazu beitragen, dass das neue Hören in den Alltag integriert wird (Autoren dieser Studie, in Bearbeitung). Für die ersten beiden Stufen bedeuten die Erkenntnisse, dass hör- und sehbeeinträchtigte Personen umso mehr auf ihr Umfeld angewiesen sind, um Veränderungen zu erkennen und abklären zu lassen.
Andere Studienergebnisse belegen, dass die altersbedingte Schwerhörigkeit (Presbycusis) mit dem Alter fortschreitet Presbykusis wird so beschrieben, dass die Patient*innen in lauter Umgebung Sprache nicht verstehen können. An der Entstehung der Presbyakusis sind verschiedene Faktoren beteiligt, die intrinsisch (genetisch) oder extrinsisch (umweltbedingt) sein können [
]. Presbykusis beeinträchtigt neben den kognitiven, emotionalen und körperlichen Aktivitäten auch das soziale Leben älterer Menschen. In der vorliegenden Studie wurden Abklärungen von Hör- und Sehbeeinträchtigungen häufig erst auf Drängen von Familienangehörigen durchgeführt. Gemäss des Stufenmodells ist die Auseinandersetzung mit der Veränderung des Hörens sehr zentral, welches anhand der zweiten Stufe, der Reflexion, aufgezeigt wird. Die zweite Stufe beschreibt die bewusste Auseinandersetzung des veränderten Hörens und Sehens und schliesst auch die Reflexionsfähigkeit – Bezug nehmend auf die Leistungsfähigkeit – mit ein. In der Stufe der Reflexion zeigten die Teilnehmenden, dass sie sich über die Verschlechterung ihrer Gesundheit und insbesondere ihres Hörvermögens sorgen. Der Wunsch, dabei zu sein, manifestiert sich oft in der Suche nach geeigneten Hilfen, um das natürliche Hören wieder zu erlangen. An dieser Stelle kann ein Bezug zum Modell der selektiven Optimierung und Kompensation hergestellt werden, bei dem es um die effiziente Nutzung von Ressourcen geht, um sich dem Alterungsprozess anzupassen [
]. Für pflegebezogene Angebote und für die Zusammenarbeit zwischen Teilnehmenden und ihren Familien sind dies wichtige Informationen, die in der Planung der Pflege berücksichtigt werden müssen. Aufgrund von Missverständnissen können Patient*innen falsch diagnostiziert und mit einer vermeidbaren Erkrankung oder einer längeren Krankheitsdauer konfrontiert werden.
Mit einer Hör- und Sehbeeinträchtigung verändert sich der Alltag und wesentlich die Beziehungen im näheren Umfeld. Die Partnerschaft wird zentraler denn je, da durch den geteilten Verlust oder durch die Hilfe des anderen das fehlende Vermögen teilzunehmen ergänzt wird. Das gemeinsame Verrichten von Aktivitäten setzt jedoch ein gegenseitiges Verständnis für die Situation des anderen und Kenntnisse über die Beeinträchtigung des Hörens und des Sehens voraus.
Anhand vorliegender Studienergebnisse kann interpretiert werden, dass der Zugang zu Informationen häufig zufällig entsteht. Befinden sich Betroffene in einer Gemeinschaft, werden Informationen zu Möglichkeiten schneller weitergegeben, als wenn Betroffene allein leben. Pflegefachpersonen können daher Abklärungen von Sinnesbeeinträchtigungen unterstützen oder selbst durchführen. Zudem können Pflegefachpersonen Personen, die von einer Hör- und Sehbeeinträchtigung betroffen sind, im Umgang mit Hilfsmitteln gezielt beraten und sie unter Einbezug der Familie dabei unterstützen, Netzwerke aufzubauen. Dies trägt zur Förderung von sorgenden Gemeinschaften bei und ermöglicht Teilnehmenden, Verantwortung für die eigene Situation zu übernehmen [
]. Hier zeigen die Studienergebnisse in der dritten Stufe der Translation eindeutig, dass der Austausch mit Gleichgesinnten sowie eine Anlaufstelle zur Klärung von Fragen wesentlich zur Integration des neuen Hörens beitragen (Autoren dieser Studie, in Bearbeitung). Pflegefachpersonen können Betroffene und ihre Familien darin unterstützen, die eigene Sicht der Dinge positiv zu konstruieren und einen neuen Alltag für sich zu erschaffen. Das kann zu mehr Selbstwirksamkeit führen und den Selbstwert aller Akteure stärken.
Das Hören entwickelt sich besonders mit der Altersschwerhörigkeit zu einem aktiven Vorgang, der Teilnehmenden abverlangt, aktiv zu kommunizieren. In der Kommunikation ist es daher erforderlich, auf diese Veränderung des Hörens und des Verstehens einzugehen. Im Hinblick auf die Kommunikationsprozesse der Resilienz [
] kann die Unterstützung zur Integration des veränderten Hörens und Sehens darin bestehen, dass Betroffene und ihre Familien im Erschaffen einer neuen Normalität begleitet werden. Die Förderung des Tragens einer Hörhilfe könnte eine Aufgabe sein, welche die Pflegenden vor allem bei der kontinuierlichen Betreuung von älteren Personen im spitalexternen Setting übernehmen. Eine enge Zusammenarbeit mit den betreuenden Angehörigen wird als wichtig erachtet, da diese bei der Entscheidungsfindung für die Anschaffung eines Hörgerätes einen massgebenden Einfluss haben. Pflegefachpersonen können Angehörige über den Umgang mit Hilfsmitteln informieren und Betroffene unterstützen, diese situationsgerecht im Alltag anzuwenden [
]. Ein gezielter Einsatz von Hilfsmitteln kann dazu beitragen, dass Aktivitäten von Betroffenen besser und sicherer ausgeführt werden können, was die Selbstmanagementkompetenz erhöht und Gefühle von Einsamkeit minimieren kann [
Ebenso sollte im Umgang mit hör- und sehbeeinträchtigten Personen berücksichtigt werden, dass das Sprachverständnis betroffen ist. Im Alltag heisst dies, dass Gespräche und Geräusche zwar normal laut gehört werden, aber nur schwer verstanden werden können, insbesondere dann, wenn Hintergrundgeräusche vorhanden sind. Die Auswirkung im Alltag ist der offensichtliche Rückzug.
Im Stufenmodell ist das Kommunizieren-können zentral. Die Kommunikation ist hierbei die Basis für die Resilienz der Teilnehmenden. Die Resilienz versteht sich im Stufenmodell als ein Ergebnis eines fortlaufenden Anpassungs- und Entwicklungsprozesses wird durch Kommunikation erschaffen „Communicative construction of resilience“ [
Nach einem kritischen Ereignis, wie dem Verlust des Hörens, geben sich resiliente hör- und sehbeeinträchtigte Personen eine neue Identität, was sich anhand des KoRes-Modells beschreiben lässt. Betroffene haben gelernt, dass sie zu einem Teil über ihr eigenes Schicksal bestimmen können und dass Kontrollüberzeugungen dazu beitragen können, Herausforderungen im Alltag zu meistern, indem sie selbst aktiv werden (Autoren, in Bearbeitung).
Limitierend ist zur vorliegenden Studie anzumerken, dass nur Personen eingeschlossen wurden, die mehrheitlich den Alltag gut bewältigen konnten. Ein Teil der Befragten hat sich gezielt gemeldet, nachdem sie im Rahmen des Vereins angesprochen worden sind. Dem entgegen wirken allerdings die zusätzlich getätigten Anwerbemaßnahmen über Kongresse, Fachzeitschriften und Facebook. Unklar ist, welchen Bedarf Personen benötigen, die mehrfach erkrankt sind, Erkrankungen wurden nicht zusätzlich erfragt. Ebenso bildet die Studie wenig zu den Gründen der Hör- und Sehbeeinträchtigung ab; hier wären Zusammenhänge zwischen den Ursachen der Beeinträchtigung interessant, um das Stufenmodell KoRes zu validieren.
Schlussfolgerungen
Die Abklärung und die Reflexion über die Veränderung des Hör- und Sehvermögens sind Voraussetzungen, um das veränderte Hören in den Alltag zu integrieren. Vor allem Pflegefachpersonen können dazu beitragen, dass Betroffene und ihre Familien Netzwerke nutzen, die ihnen helfen, sich in individuellen Situationen zu orientieren und neue Verhaltensweisen in einem neuen Alltag zu erlernen und einzuüben. Auch bei der Vielzahl an schambehafteten Gefühlen der Betroffenen können Pflegefachpersonen unterstützend wirken, indem sie Betroffene und ihre Familien ermutigen und den Raum dafür bereitzustellen, negative Gefühle zuzulassen und sich gleichzeitig auf positive Gefühle zu fokussieren. Es kann geschlussfolgert werden, dass die Art und Weise, wie Betroffene und ihre Angehörigen sich mit dem Verlust des Hörens und des Sehens auseinandersetzen, die Integration des veränderten Hörens in den Alltag massgeblich beeinflusst.
Förderung
Die Studie wurde finanziell unterstützt durch: Ebnet-Stiftung, Zürcher Stiftung für das Hören, Max Bircher Stiftung, Werner H. Spross-Stiftung, pro audito Winterthur, pro audito St. Gallen, pro audito Bern, pro audito Horgen-Thalwil und Umgebung, pro audito Schwerhörigenverein Aarau, René und Susanne Braginsky Stiftung.
Danksagung
Wir bedanken uns bei allen Sponsoren die uns zur Umsetzung der Studie verholfen haben. Ein besonderer Dank gilt den Teilnehmenden der Studie und ihren Familien sowie Herrn Pfarrer Siegfried Karg, dessen Fürsprache und Unterstützung während der Akquise wesentlich zur erfolgreichen Realisierung des Projektes beigetragen hat. Ein weiterer Dank gebührt Prof. Dr. Lorenz Imhof, Prof. Dr. Heidi Petry, Irene Eckerli Wäspi, Nicole Zigan, Geneviève Blanc, Michelle Heine, Brigitte Eberhard, Seraina Brooks, Irene Eckerli und vielen Kolleginnen und Kollegen, die aus Platzgründen nicht explizit genannt werden können.
Interessenkonflikt
Die Autor*innen geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Autorenschaft
Daniela Händler-Schuster: Entwicklung des Studienprotokolls, Datenerhebung, Datenmanagement, Dateninterpretation, Verfassen des Manuskripts, Kritische Kommentierung des Manuskriptentwurfs. Gerhard Müller: Kritische Kommentierung des Manuskriptentwurfs. Markus Melloh: Verfassen des Manuskripts, Kritische Kommentierung des Manuskriptentwurfs.
Literatur
World report on hearing. Geneva: World Health Organization; 2021. Licence: CCBY-NC-SA 3.0 IGO.
Gething L. Ageing with long-standing hearing impairment and deafness. International Journal of Rehabilitation Research, 23(3), 209-215. doi: 10.1097/00004356-200023030-00011. PMID: 11131623.
Vision Loss Expert Group. Magnitude, temporal trends, and projections of the global prevalence of blindness and distance and near vision impairment: a systematic review and meta-analysis.
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Genf, Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information.
DIMDI WHO- Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen.2005;
OARS-IADL (Older Americans Resources and Services Scale-Instrumental Activities of Daily Living), in Physical Rehabilitation outcome measures: A guide to enhanced clinical decision making.
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