Beschreibung der Themen
Unsere Analyse resultierte in drei Themen mit jeweils drei Subthemen.
Tabelle 1 bietet einen Überblick der Themen und Subthemen.
Tabelle 1Themen und Unterthemen.
Nutzung und Potenziale von technischen Assistenzsystemen
Die Nutzung technischer Assistenzsysteme in der Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz entfaltet Potenziale zur Unterstützung im häuslichen Betreuungsnetzwerk, zur Förderung des Sicherheitsempfindens sowie zur Ermöglichung und zum Erhalt von Interaktion.
Unterstützung im häuslichen Betreuungsnetzwerk: Die Nutzung technischer Assistenzsysteme ermöglicht, die Lebens- und Wohnsituationen von Personen mit Demenz und ihren Angehörigen zu unterstützen. Hierzu führten die Expertinnen und Experten empirische Belege und erfahrungsbasierte Sichtweisen zu sprach- und bildbasierten Kommunikationssystemen im formell und informell besetzten Betreuungsnetzwerk von Personen mit Demenz an. Derartig genutzte technische Assistenzsysteme können demnach dazu beitragen, Angehörige in der Betreuungsorganisation und -koordination zu unterstützen bzw. den Planungsaufwand zu minimieren. Laut den Befragten können technische Assistenzsysteme dazu beitragen, den Wechsel einer Person mit Demenz in ein institutionelles Pflege- und Betreuungssetting zeitlich hinauszuzögern und somit einen längeren Verbleib im häuslichen Lebensumfeld zu ermöglichen. Eine Expertin führte hierzu unterschiedliche Beispiele an, „um eben dieses längere Zuhausebleiben zu ermöglichen. Das fängt bei Wearables an, die man einsetzen kann, aber auch Telemonitoring über Technologien, um Daten über den Blutdruck oder alles Mögliche zu sammeln und dann weiterzuleiten zur Hauskrankenpflege oder zum ärztlichen Bereich“ (IV2 Z10).
Förderung von Sicherheitsempfinden: Sensorbasierte Assistenzsysteme können gemäß den erfahrungsbasierten Sichtweisen und persönlichen Meinungen der Expertinnen und Experten dazu beitragen, die Sicherheit von Personen mit Demenz zu erhöhen, das Sicherheitsempfinden im Umfeld der Personen mit Demenz zu steigern und Pflegende zu entlasten. Ein Experte schätzte die Wirkung sensorbasierter Systeme als bedeutsam ein: „Wenn jetzt ein Sturz wäre, dann würde ich alarmiert werden. Und das erhöht dann nicht nur die Sicherheit für die Person, sondern auch für das Umfeld. Das finde ich extrem wichtig“ (IV5 Z10). Mobile sensorbasierte Assistenzsysteme können nach übereinstimmenden erfahrungsbasierten Aussagen der Expertinnen und Experten dazu beitragen, die Mobilität von Personen mit Demenz im öffentlichen Raum sicherer zu gestalten und dabei den Bewegungsradius zu erhalten bzw. zu erweitern. Die Systeme können die räumliche und zeitliche Navigation von Personen mit Demenz unterstützen und situativen Hilfebedarf identifizieren. Derart genutzte technische Assistenzsysteme können sich positiv auf die selbständige Alltagsgestaltung und die Lebensqualität von Personen mit Demenz auswirken. Durch Unterstützung bei der räumlichen und zeitlichen Orientierung können sie das Sicherheitsempfinden stärken und Stress reduzieren. Eine Expertin erwähnte Sturzsensoren in der stationären Langzeitpflege zur Entlastung der Pflegenden: „Gerade in der Nacht kann das ein erster Hinweis sein, ob da tatsächlich etwas passiert ist, wo ich nachschauen muss oder ob es eben nur ein kurzes Aufwachen gewesen ist. Das kann schon entlasten“ (IV15 Z13). Gemäß den erfahrungsbasierten Einschätzungen und empirischen Belegen der Expertinnen und Experten eignen sich sensorbasierte Assistenzsysteme für eine niedrigschwellige und flächendeckende Nutzung, beispielsweise in Pflegeheimen. Dafür sprechen mehrere Gründe: die Marktverfügbarkeit dieser Systeme, eine vermutlich hohe Akzeptanz seitens der Nutzenden, relativ niedrige Kosten, eine lange Laufzeit und ein geringer Installations- und Schulungsaufwand. Gemäß den Erfahrungen eines Experten könnten die Daten sensorbasierter Assistenzsysteme zukünftig dazu beitragen, sicherheitsbezogene Herausforderungen und Probleme in der Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz im mobilen, häuslichen und institutionellen Bereich zu überwinden, da ein umfangreiches, vernetztes Sicherheitsmonitoring möglich sein wird.
Interaktionsermöglichung und -erhalt: Robotische Systeme und Videointeraktionssysteme können sich gemäß den empirisch gestützten und erfahrungsbasierten Einschätzungen der Expertinnen und Experten eignen, um Interaktionen mit Personen mit Demenz zu ermöglichen und zu erhalten. Die Expertinnen und Experten führten hier insbesondere ihre Erfahrung und empirische Belege zu telepräsenzrobotischen Systemen und Plüschtierrobotern an. Alleinlebende Personen mit Demenz könnten mithilfe solcher Systeme mit räumlich distanzierten Angehörigen in Kontakt treten: „Man kann tatsächlich quasi gemeinsam Kaffee trinken oder essen. Und man ist beim Essen dabei“ (IV 10 Z15). Telepräsenzrobotische Systeme könnten vielseitige Interaktionen von Personen mit Demenz mit ihrem Umfeld ermöglichen und erhalten. Laut den empirisch gestützten und erfahrungsbasierten Aussagen eines Experten lassen sie sich auch nutzen, um Personen mit Demenz telepräsent bei Haushaltstätigkeiten wie Kochen oder Reinigen anzuleiten. Zur Plüschtierrobotik führten die Expertinnen und Experten empirische Nachweise an, die sich auf Paro bezogen. Anhand von Studienergebnissen rekonstruierten sie, dass ein gezielter Einsatz von Paro zur Förderung der Interaktion und des emotionalen Wohlbefindens sowie zur Reduktion von Stimmungstiefs oder herausfordernden Verhaltensweisen beitragen kann. Die Expertinnen und Experten wiesen jedoch darauf hin, dass sich dieses Potenzial nicht durch Untersuchungen zur Akzeptanz und Wirksamkeit der Plüschtierrobotik in der Schweiz untermauern lässt.
Anforderungen an die Nutzung technischer Assistenzsysteme
Zur Nutzung technischer Assistenzsysteme in der Pflege und Begleitung von Personen mit Demenz beschreiben die Expertinnen und Experten drei Anforderungen: Strukturelle Rahmenbedingungen, Steigerung der Lebens- und Betreuungsqualität sowie Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse bzw. der gesundheitlichen Situation der Betroffenen.
Strukturelle Rahmenbedingungen: Aufgrund ihrer erfahrungsbasierten und persönlichen Einschätzung führten die Expertinnen und Experten an, dass Informations- und Beratungsmöglichkeiten für Personen mit Demenz und formell bzw. informell Pflegende zur Nutzung technischer Assistenzsysteme derzeit nur vereinzelt verfügbar sind: „Es gibt zu wenig Beratungsinfrastrukturen. Es gibt auch keinen Handel, wo man diese Systeme bekommt oder wo sie einem empfohlen werden“ (IV13 Z12). Daher ist es notwendig, systematisch aufbereitete Informations- und Beratungsstrukturen mit lokalen und niederschwelligen Zugangsmöglichkeiten zu schaffen. Der Anspruch besteht darin, Ratsuchende systematisch zu informieren in Bezug auf die Auswahl, Beschaffung, Zugänglichkeit, Konfiguration und Nutzung technischer Assistenzsysteme in der Pflege und Betreuung. Die Informations- und Beratungsleistungen sollten sachlich und neutral bzw. finanziell unabhängig sein. Laut der erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten gilt es, finanziell unabhängige Zugänge und eine Nutzung für alle betroffenen Personen zu ermöglichen. Gemäß der erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten sind politisch initiierte Finanzierungsmodelle für Informations- und Beratungsleistungen zu technischen Assistenzsystemen erforderlich: „Insofern brauchen wir entweder Unterstützungsinfrastrukturen als Voraussetzung oder man braucht eine entsprechende Beschäftigung mit dem Thema in der Qualifikation der Fachkräfte in diesem Kontext, die wir jetzt bisher auch noch nicht sehen“ (IV13 Z12). Um die Translation technischer Assistenzsysteme in die Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz zu fördern, sollten laut der erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten technikbezogene Anteile im Pflegestudium und in der Beratung von Betroffenen verankert werden. Technikbezogene Bildungs- und Beratungsanteile können dazu beitragen, Technikkompetenzen bei potenziellen Anwendenden zu fördern und somit fachliche Expertise für eine gezielte und begründete Technologieauswahl auszubauen. Die grundständige Verankerung technikbezogener Bildungs- und Beratungsanteile unterstützt digitale Transformationsprozesse für kommende Generationen, um Möglichkeiten einer geeigneten Nutzung zu prüfen und technische Assistenzsysteme gezielt einzusetzen. Nach erfahrungsbasierter Einschätzung der Expertinnen und Experten erfordert der Einsatz technischer Assistenzsysteme im Kontext professioneller Pflege jedoch eine Begleitung. Eine Expertin merkte hierzu an: „Du kannst nicht einfach Paro den Leuten geben und dann holst du den nach fünf Stunden wieder ab. Das ist ein Therapieinstrument. Das evoziert Emotionen. Und du brauchst Personal, das gut ausgebildet ist, um das eben wieder aufzufangen. Das ist ja etwas, was die Öffentlichkeit dann meistens gar nicht sieht und dann denkt: Ja, das macht man, um irgendwie Personal zu sparen“ (IV5 Z8). Der Einsatz technischer Assistenzsysteme kann somit Pflege- und Betreuungspersonal nicht ersetzen. Vielmehr ist ausgebildetes Personal notwendig, um den Technologieeinsatz durchzuführen sowie vor- und nachzubereiten. Nach erfahrungsbasierter und persönlicher Einschätzung der Expertinnen und Experten sollte die Nutzung technischer Assistenzsysteme konzeptionell in das jeweilige pflegerische Setting eingebunden und in der Ausgestaltung der Pflege und Betreuung verankert sein.
Steigerung der Lebens- und Betreuungsqualität: Am Beispiel von Paro beschrieben die Expertinnen und Experten Anforderungen an die Nutzung technischer Assistenzsysteme zur Steigerung der Lebens- und Betreuungsqualität. Dabei bezogen sich die Befragten auf ihre empirisch gestützten und erfahrungsbasierten Einschätzungen. Die Anforderung besteht in der mit einer Nutzung verbundenen Absicht, die soziale, psychische und physische Lebensqualität von Personen mit Demenz sowie der informellen und formellen Pflegenden zu steigern: „Technik ist ein Werkzeug für die Versorgung und ich kann versuchen, damit eine bessere Versorgungsqualität herzustellen“ (IV13 Z6). Als Voraussetzung nannten die Expertinnen und Experten jedoch die empirisch begründete Sichtbarkeit des Nutzens. Ein Nachweis kann anhand von Studien erfolgen, die einen Nutzen für Adressatinnen und Adressaten beschreiben. Eine Nutzung technischer Assistenzsysteme ohne empirisch belegten Wirkungsnachweis für Pflege- und Betreuungssituationen von Personen mit Demenz lehnten die Expertinnen und Experten ab.
Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und der gesundheitlichen Situation: Gemäß der erfahrungsbasierten und persönlichen Einschätzung der Expertinnen und Experten sollten bei der Nutzung technischer Assistenzsysteme die individuellen Vorstellungen, Wünsche, Bedürfnisse und die Situation der Personen mit Demenz berücksichtigt werden. Eine vorausschauende Nutzungsplanung könnte hierfür sinnvoll sein, beispielsweise im Kontext von Advance Care Planning. Dabei könnten auch frühere Nutzungsgewohnheiten der Personen mit Demenz besprochen werden. Ein Experte stellte hierzu fest: „Meiner Erfahrung nach wollen die Leute nicht plötzlich YouTube schauen, wenn sie immer SRF1 geschaut haben“ (IV3 Z15). Sofern Personen mit Demenz ihre Vorstellungen und Wünsche nicht verbalisieren können, „muss wirklich der Versuch gemacht werden, lebensweltliche Prozesse aus Sicht der Betroffenen genau zu erfassen, um dann zu überlegen: Was würde der Person denn gut tun?“ (IV7 Z2). Die Expertinnen und Experten gehen aufgrund ihrer Erfahrung davon aus, dass eine Abstimmung auf die individuellen sensorischen Bedürfnisse förderlich ist, damit die Nutzung technischer Assistenzsysteme ein positives Erlebnis auslöst.
Zudem sollte es möglich sein, den Technologieeinsatz flexibel an die jeweiligen Lebens- und Wohnsituationen von Personen mit Demenz anzupassen. Laut den Expertinnen und Experten erfordert dies eine reflektierte Nutzung. Die Nutzungsdauer sollte sich daran orientierten, ob und wie lange die Person mit Demenz den Einsatz eines technischen Assistenzsystems für notwendig und sinnvoll hält. Nach der erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten wäre es hilfreich, technische Assistenzsysteme zur Probenutzung auszuleihen und wieder zurückzugeben, wenn eine Nutzung nicht mehr erwünscht oder angezeigt ist. Dadurch wäre es zudem möglich, Nutzungsvorlieben zu erkunden und eine Eingewöhnungszeit zur Verfügung zu haben. Dies ist nach erfahrungsbasierter Einschätzung der Expertinnen und Experten gerade dort sinnvoll, wo technische Assistenzsysteme neu ins Leben der Betroffenen treten.
Gemäß der erfahrungsbasierten und persönlichen Einschätzung der Expertinnen und Experten sollte sich die Nutzung technischer Assistenzsysteme in der Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz an Demenzphasen und -formen orientieren und dabei die sozialen, emotionalen, physischen, psychischen und kognitiven Fähigkeiten einer Person mit Demenz berücksichtigen. Die Nutzung sollte auf den individuellen Verlauf und die Schwere der Demenz abgestimmt sein. Technische Assistenzsysteme sollten Personen mit Demenz nicht per se vorenthalten werden aufgrund ihrer Erkrankung. Es sollte nicht sein, „dass man Menschen mit Demenz einfach, weil es Menschen mit Demenz sind, letztendlich dahingehend stigmatisiert, dass man ihnen Dinge einfach vorenthält“ (IV4 Z16). Die Nutzung technischer Assistenzsysteme sollte sich an den mit Demenz einhergehenden Möglichkeiten orientieren. Falls spezifische demenzbezogene Einschränkungen die gesundheitliche Situation und das Wohlbefinden der Betroffenen gefährden, raten die Expertinnen und Experten aufgrund ihrer erfahrungsbasierten Einschätzung vom Einsatz technischer Assistenzsysteme ab. Beispielsweise kann ein Virtual Reality-Unterstützungsansatz Personen mit Demenz mit visuellen Einschränkungen oder limitierten räumlichen Orientierungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten verunsichern und beängstigen, weil „sie das nicht mehr unterscheiden könnten: Was ist in der realen Welt? Und was ist in der virtuellen Welt? Und sie denken, die Menschen sprechen mit ihnen. Und das bringt sie völlig aus dem Konzept, weil sie denken, es ist jemand Fremdes in der Wohnung, der da nicht hingehört“ (IV7 Z40).
Gemäß der Erfahrung und der persönlichen Meinung der Expertinnen und Experten sollte die Bedienung technischer Assistenzsysteme für Personen mit Demenz möglichst einfach und selbsterklärend sein. Intuitive Handhabbarkeit kann sich förderlich auf die Anwendung auswirken. Vor diesem Hintergrund schlagen die Expertinnen und Experten Standardtechnologien vor. Abhängig von der Demenzphase und den individuellen Möglichkeiten sollten diese Standardtechnologien für den Einsatz in der Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz angepasst werden: „Je komplexer man das macht, desto eher ist es zum Scheitern verurteilt. Das wäre auch so ein Thema, wo man vor allem schauen muss, dass man es nicht zu komplex macht und eher versucht, die einfachen Dinge zu unterstützen“ (IV13 Z8).
Ethische Überlegungen und technisches Vermögen
Im Kontext ethischer Überlegungen beschrieben die Expertinnen und Experten das Spannungsfeld zwischen Sicherheitsförderung und Gewährung individueller Freiheit. Darüber hinaus nannten sie Belastungen, die sich infolge einer telepräsenten Betreuung für Angehörige ergeben können. Zudem wiesen sie auch auf die Grenzen einer technikunterstützten Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz hin.
Sicherheit und Freiheit: Das identifizierte Potenzial technischer Assistenzsysteme zur Förderung der Sicherheit von Personen mit Demenz sowie des Sicherheitsempfindens im Umfeld der Personen mit Demenz erfährt eine Grenze aufgrund ethischer Überlegungen. Gemäß der erfahrungsbasierten und persönlichen Einschätzung der Expertinnen und Experten kann diese Grenze darin bestehen, dass technische Assistenzsysteme nicht alle potenziellen Gefahrensituationen für Personen mit Demenz erkennen und somit keine allumfassende Sicherheit gewährleisten können. Die Expertinnen und Experten wiesen in diesem Kontext darauf hin, dass eine „Pseudosicherheit“ oftmals der Intention der Angehörigen entspricht, wenn „man fürchtet, dass was passiert – wie so zum Selbstschutz, dass man diese Sachen installiert und denkt: OK, sie ist jetzt sicher. Da meldet sich dann schon irgendein Alarm, wenn was los ist. Da kommen wir ins Dilemma Autonomie, Freiheit versus Sicherheit“ (IV1 Z39). Dieses Dilemma existiert dort, wo Sicherheitsabsichten in Überwachungsabsichten übergehen. Ein Experte schilderte anhand seiner Erfahrung, „dass in dem Moment, wo die Angehörigen das Telepräsenzgerät einschalten, erstmal so eine Art Prioritätenliste abgearbeitet wird: Also, hat die Mutter genug getrunken? Genug gegessen? Was isst sie? Hat sie die Medikamente genommen? Oder man fängt dann an, zu korrigieren. Und sagt dann: Stimmt doch gar nicht, was du erzählst! Ich sehe doch: Da steht die Kanne. Da ist doch noch gar nichts getrunken!“ (IV10 Z26). Durch den Einsatz von technischen Assistenzsystemen entsteht für Angehörige und Betreuende von Personen mit Demenz somit ein Dilemma zwischen dem Streben nach Sicherheit und Fürsorge einerseits und Überwachungsmöglichkeiten andererseits. Überwiegen die Überwachungsabsichten, besteht die Gefahr, die Freiheitsrechte der Personen mit Demenz zu unterminieren.
Begleiterscheinungen von telepräsenter Betreuung: Der Einsatz von technischen Assistenzsystemen kann gemäß der empirisch gestützten und erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten Einblicke in den Lebensraum bzw. die Lebenswelt von Personen mit Demenz eröffnen. Dadurch ist sichtbar, wo sich eine Person mit Demenz befindet, was sie wie macht und womit sie sich beschäftigt bzw. nicht beschäftigt. Videotechnologie kann die Lebenssituation von Personen mit Demenz für die Angehörigen und Betreuenden sichtbar und spürbar machen. Auch das Fortschreiten der Demenz sowie Veränderungen des Gesundheitszustandes und des Wohlbefindens können dadurch für Angehörige sichtbar werden. Derartige Einblicke können besorgniserregend und belastend wirken: „Wenn die Töchter erst über das Telepräsenzgerät wahrnehmen, wie einsam die Mutter eigentlich ist. Und welche Probleme sie schon hat, in ihrem Alltag zurechtzukommen. Und man nimmt auch einfach Mimik wahr, man nimmt Gestik wahr, man nimmt Körperhaltung wahr. Also man kann auch die Befindlichkeiten der Person mit Demenz ganz anders deuten, wenn man das sieht, als wenn man das am Telefon hat“ (IV10 Z26). Die Belastung für Angehörige und Betreuende verstärkt sich, da das technische Assistenzsysteme ein Dasein ermöglicht, ohne wirklich da zu sein bzw. physisch da sein zu können. Dies gilt auch für Situationen, in denen Begleitung und Beistand in telepräsenter Form nicht ausreicht, um die Betroffenen, die Angehörigen oder die Betreuenden emotional aufzufangen. Angehörige und Betreuende geraten unter Druck, wenn ein telepräsenter Einblick nicht mit Unterstützung unmittelbar vor Ort gleichgesetzt werden kann.
Vorbehalte und Technikoptimismus: Ein technischer Ersatz der durch Zuwendung und Interaktion geprägten menschlichen Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz stellt aus erfahrungsbasierter und persönlicher Sicht der Expertinnen und Experten keine realistische Möglichkeit dar. Es gilt, einem gesellschaftlichen Bild vorzubeugen, wonach technische Assistenzsysteme eine Lösung für Versorgungslücken sind und zur Einsparung von Personal oder Kosten dienen. Eine Diskussion über den Einsatz technischer Assistenzsysteme mit Fokus auf Ressourcenknappheit, Personal- und Fachkräftemangel gilt es zu vermeiden: „Man muss aufpassen, nicht zu stark aus einer Mangelsituation heraus Technik als Lückenfüller zu sehen. In den seltensten Fällen werde ich damit Geld sparen oder ähnliche Effekte haben oder Zeit sparen oder was auch immer“ (IV13 Z6).
Eine autonom agierendes technische Assistenzsystem zur pflegerischen Einschätzung der Situations- und Bedürfnislagen von Personen mit Demenz ist aus empirisch gestützter und erfahrungsbasierter Einschätzung der Expertinnen und Experten kein realistisches Ziel. Begründen lässt sich dies mit den individuellen und komplexen Lebenswirklichkeiten und den damit verbundenen Alltagshandlungen bzw. Reaktionen von Pflegenden und Personen mit Demenz: „Man muss Empathie haben, mit der Person sprechen und herausfinden: Wie geht es der Person? Und was sie sagt und wie es ihr geht, ist vielleicht nicht dasselbe“ (IV6 Z25).
Nach erfahrungsbasierter und persönlicher Einschätzung der Expertinnen und Experten besteht ein Überoptimismus hinsichtlich der Frage, was technische Assistenzsysteme zur Pflege und Betreuung von Personen mit Demenz beitragen können. Das Beispiel eines Pflegeroboters veranschaulicht für die Expertinnen und Experten übertriebene Erwartungen an ein technisches Assistenzsystem, die es nicht gibt bzw. die noch nicht weit genug entwickelt ist. Technische Multifunktionalität hat deutliche Grenzen, wenn es um das Abbilden multipler und komplexer Fähigkeiten und Handlungsabläufe geht. Demnach ist es nicht in ausreichendem Maße möglich, individuelle demenzbedingte Fähigkeiten und Einschränkungen technologiebasiert zu unterstützen und kompensieren. Laut der erfahrungsbasierten Einschätzung der Expertinnen und Experten ist aus technischer Sicht in absehbarere Zeit nicht mit einer Änderung zu rechnen: „Jede Art von Pflegeroboter – da wird ein falsches Bild aufgebaut von einer Technologie, die so noch gar nicht existiert. Wenn man sieht, was Roboter heute können und was nicht, dann sind Pflegende so ungefähr das Letzte, was von einem Pflegeroboter ersetzt wird“ (IV6 Z25).
Auch bei der Planung von Studien besteht ein hoher Technikoptimismus. Dieser zeigt sich in überoptimistischen Projektvorstellungen, wenn es darum geht, technische Assistenzsysteme für die Pflege und Begleitung von Personen mit Demenz zu entwickeln und zu testen. Die Konstruktion derart unrealistischer Ziele wirft aus erfahrungsbasierter Sicht der Expertinnen und Experten ein negatives Licht auf den gesamten Forschungsbereich und lässt ihn unglaubwürdig erscheinen.