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Versorgungsforschung / Health Services Research| Volume 165, P68-76, October 2021

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Interdisziplinärer Versorgungspfad und mögliche IT-Unterstützung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland

  • Michele Zoch
    Correspondence
    Korrespondenzadresse. Michele Zoch. Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Fetscherstraße 74, 01307 Dresden, Deutschland.
    Affiliations
    Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Brita Sedlmayr
    Affiliations
    Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland

    Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Andreas Knapp
    Affiliations
    Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Franziska Bathelt
    Affiliations
    Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Sven Helfer
    Affiliations
    Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Jochen Schmitt
    Affiliations
    Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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  • Martin Sedlmayr
    Affiliations
    Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
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Open AccessPublished:September 02, 2021DOI:https://doi.org/10.1016/j.zefq.2021.06.004

      Zusammenfassung

      Hintergrund

      Durch die hohe Variabilität bei gleichzeitig rarem Auftreten von Seltenen Erkrankungen, gleicht die Diagnosestellung bei Betroffenen (ca. 4 Millionen Menschen in Deutschland) einer Odyssee. Die häufig lange Ungewissheit über die Ursache der Beschwerden sowie unspezifische oder gelegentlich auch unangemessene Behandlungen können erhebliche negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Erkrankungsverlauf haben.
      Für ein besseres Verständnis der aktuellen Versorgungssituation und IT-Landschaft wird der interdisziplinäre Versorgungspfad von Menschen mit Seltenen Erkrankungen modelliert sowie die Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen identifiziert, die das Potential zur Verbesserung der Diagnose, Behandlung und Therapie von Seltenen Erkrankungen aufweisen.

      Methode

      Um diese Ziele zu erreichen, wurde ein initialer Versorgungspfad auf Basis von in der Literatur beschriebenen Prozessschritten modelliert und in einem ersten Workshop mit sechs Expertinnen und Experten aus der ambulanten und stationären Versorgung sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Zentren für Seltene Erkrankungen detailliert, diskutiert und konsentiert. Der resultierende Versorgungspfad wurde in einem zweiten Workshop hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen von zehn Expertinnen und Experten analysiert und die Identifikation konsentiert. Zu den Expertinnen und Experten gehörten die Beteiligten des Prozesses, insb. Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten / Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter, Versorgungsforscherinnen und Versorgungsforscher sowie Expertinnen und Experten der Krankenhaus-IT, der IT-Sicherheit und des Datenschutzes.

      Ergebnisse

      Die beiden Workshops resultierten in Prozessmodellen inklusive der Angabe von Einsatzmöglichkeiten für IT-Anwendungen.
      Die wichtigsten Schritte in dem Versorgungsprozess von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland umfassen dabei:
      • Neugeborenen-Screening,
      • Suche nach ärztlichem Rat,
      • Betreuung durch ambulante Hausärztinnen und Hausärzte,
      • Betreuung durch ambulante Fachärztinnen und Fachärzte,
      • Betreuung durch Spezialambulanz,
      • Betreuung durch Klinik,
      • Betreuung durch Zentrum für Seltene Erkrankungen: Sichtung des Falls und Fallkonferenz und
      • Behandlung und Therapie.
      Die Diskussion der Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen ergab einen Fokus auf Register (u. a. hinsichtlich Expertinnen und Experten, Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten) sowie auf digitale Hilfsmittel, wie „Digitaler Befund und Befund-Plattform“ und „Digitale Überweisung mit Überweisungs-Tracking“.

      Diskussion

      Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Versorgungspfad sehr heterogen und komplex ist. So weisen die Teilprozesse unterschiedliche Varianten mit vielen Verzweigungen und Wiederholungen auf. Außerdem verdeutlichen sie, dass die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen ein hohes Maß an Interdisziplinarität erfordern; so erfolgen die Diagnosestellung sowie die Behandlung und Therapie oftmals sektorenübergreifend und in Kooperation zwischen verschiedenen medizinischen Gesundheitseinrichtungen und Professionen.
      Bei der Analyse der aktuellen IT-Landschaft wird deutlich, dass IT-Anwendungen an vielen Prozessschritten der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen diverse Einsatzmöglichkeiten und hohes Potential aufweisen. Sie sollten daher eine Informationsgrundlage für Entscheidungen über adäquate Diagnose und Behandlung sowie für die Kommunikation über Krankheitsbilder und den Patientenfall zwischen Behandlern und medizinischen Versorgungssektoren bilden.

      Schlussfolgerung

      Die Interdisziplinarität verdeutlicht die Notwendigkeit der Zusammenarbeit unterschiedlicher Prozessbeteiligter. Dies erfordert jedoch die Identifikation und Realisierung von Schnittstellen zwischen Akteuren und deren Systemen. Dabei genügt indes nicht nur die Sicht auf die Prozesse, sondern es bedarf auch gleichzeitig der Datenperspektive. Durch die Schaffung von Interoperabilität wird zudem die Nutzung von IT-Anwendungen ermöglicht. Die erarbeiteten Ergebnisse liefern hierfür die Basis.

      Abstract

      Introduction

      Due to the high variability and, at the same time, rare occurrence of rare diseases, the diagnosis of these patients (approx. 4 million people in Germany) can turn into an odyssey. The large time interval between the appearance of symptoms and the final diagnosis of the rare disease leads to a delay in the appropriate treatment. The often long period of uncertainty about the cause of symptoms as well as non-specific or even wrong therapies can have negative effects on both the course of disease and the patients’ quality of life.
      For a better understanding of the current care situation and IT landscape, the interdisciplinary care pathway for people with rare diseases will be modelled and the possible uses of IT applications identified that have the potential to improve diagnosis, treatment and therapy of rare diseases.

      Methods

      In order to achieve these goals, an initial care pathway was modelled on the basis of process descriptions which are commonly used in the literature, discussed in detail, and agreed upon in a first workshop with six experts from outpatient and inpatient care as well as employees of Centers for Rare Diseases. In a second workshop, ten experts analyzed the resulting care pathway with regard to the possible use of IT applications, and the identification was agreed upon. The experts included those involved in the process, in particular physicians, patients / patient representatives, health care researchers, and experts in hospital IT, IT security, and data protection.

      Results

      The two workshops resulted in process models including the specification of possible uses for IT applications.
      The most important steps in the care pathway for people with rare diseases in Germany include:
      neonatal screening,
      seeking medical advice,
      outpatient care by general practitioners,
      outpatient care by specialists,
      care by specialist outpatient clinic,
      care by clinic,
      care by a Center for Rare Diseases: case review and case conference and
      treatment and therapy.
      The discussion of the possible uses of IT applications resulted in a focus on registers (e. g. with regard to experts, treatment and therapy options) as well as on digital tools, such as “digital findings and findings platform” and “digital referral with referral tracking”.

      Discussion

      Our results show that the care pathway is very heterogeneous and complex. Thus, the sub-processes show different variants with many branches and repetitions. They also illustrate that the care for people with rare diseases requires a high level of interdisciplinary collaboration; diagnosis as well as treatment and therapy often take place across sectors and in cooperation between different medical health care institutions and professions.
      When analyzing the current IT landscape, it becomes clear that IT applications can be used at many process steps in the care for people with rare diseases and have a high potential. Therefore, they must be used to inform decisions about the adequate diagnosis and treatment as well as communication about the clinical pictures and the patient's case between practitioners and medical care sectors.

      Conclusion

      The interdisciplinary collaboration highlights the need for cooperation between the various parties involved in the process, which requires the identification and implementation of interfaces between the stakeholders and their systems. However, it is not enough to include the view of the processes; the data perspective is also required. Creating interoperability also enables the use of IT applications. The basis for this is the results obtained.

      Schlüsselwörter

      Keywords

      Hintergrund

      Herausforderungen von Seltenen Erkrankungen

      Seltene Erkrankungen treten mit einer Häufigkeit von weniger als 5 von 10.000 Menschen auf, betreffen aber ca. 3-6% der Bevölkerung und umfassen schätzungsweise 5.000-8.000 unterschiedliche Krankheitsbilder [
      • Schieppati A.
      • Henter J.-I.
      • Daina E.
      • Aperia A.
      Why rare diseases are an important medical and social issue.
      ,
      • Graf von der Schulenburg und J.-M.
      • Frank M.
      „Rare is frequent and frequent is costly: rare diseases as a challenge for health care systems.
      ,
      • Aymé und S.
      • Schmidtke J.
      „Networking for rare diseases: a necessity for Europe.
      ]. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 4 Millionen Menschen in Deutschland an einer Seltenen Erkrankung leiden [
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ]. Die Kombination aus der hohen Gesamtzahl an Betroffenen, der Variabilität der Erkrankungen sowie der Schwere ihrer Erscheinungsformen stellt eine große Herausforderung für das Gesundheitswesen dar [
      • Schieppati A.
      • Henter J.-I.
      • Daina E.
      • Aperia A.
      Why rare diseases are an important medical and social issue.
      ,
      • Dharssi S.
      • Wong-Rieger D.
      • Harold M.
      • Terry S.
      „Review of 11 national policies for rare diseases in the context of key patient needs.
      ]. Die größten Probleme im Kontext von Seltenen Erkrankungen betreffen (a) medizinische, (b) wissenschaftliche sowie (c) organisatorische und rechtsregulatorische Aspekte [
      • Schieppati A.
      • Henter J.-I.
      • Daina E.
      • Aperia A.
      Why rare diseases are an important medical and social issue.
      ,
      • Graf von der Schulenburg und J.-M.
      • Frank M.
      „Rare is frequent and frequent is costly: rare diseases as a challenge for health care systems.
      ,
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ]:
      • (a)
        Ca. 80% der Seltenen Erkrankungen sind genetische Erkrankungen, die oft mit schwerwiegenden Einschränkungen verbunden sind, wodurch sowohl die Lebensqualität als auch die Lebenserwartung negativ beeinflusst werden. Gleichzeitig ist die Diagnosestellung der bis zu 8.000 verschiedenen Krankheiten kompliziert und langwierig, weil teilweise spezifische Tests fehlen oder Symptome isoliert betrachtet werden.
      • (b)
        Diagnosestellung und Therapie werden erschwert durch einen Mangel an ausreichend ausgebildetem Fachpersonal und einen Mangel an Informationen und medizinischem Fachwissen. Außerdem wird die Behandlung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen durch die unzureichende Benennung und Kodierung von Seltenen Erkrankungen sowie durch die Unterversorgung mit entsprechenden Medikamenten beeinträchtigt.
      • (c)
        Rechtliche und strukturelle Hindernisse beeinflussen die Durchführung von Studien, die für eine evidenzbasierte Diagnostik und Therapie notwendig sind sowie die Zusammenarbeit von regional verteilten Expertinnen und Experten sowie Patientinnen und Patienten.
      All diese Probleme führen zu einer Verzögerung der Diagnosestellung sowie der entsprechenden Behandlung und Therapie, wodurch das Risiko für körperliche und psychosoziale Komplikationen und Spätfolgen erhöht wird und die Lebensqualität der Betroffenen sinkt.

      Lösungsansätze für die verbesserte Versorgung

      Um diesen Herausforderungen zu begegnen und damit die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern, gibt es bereits verschiedene Lösungsvorschläge, die vor allem die (b) wissenschaftlichen oder (c) organisatorischen und rechtsregulatorischen Aspekte adressieren. Das Wissen um Seltene Erkrankungen soll durch Aus- und Weiterbildungsangebote erhöht werden [
      • Graf von der Schulenburg und J.-M.
      • Frank M.
      „Rare is frequent and frequent is costly: rare diseases as a challenge for health care systems.
      ]. Ebenfalls sollen rechtsregulatorische Rahmenbedingungen verbessert werden, um u. a. die Durchführung von nicht-kommerziellen Grundlagenstudien zu einzelnen Krankheitsbildern und die Produktion von sogenannten „Orphan Drugs“ zu erleichtern.
      Ein großes Potential liegt in der Förderung der Kooperation zwischen den unterschiedlichen Prozessbeteiligten. So setzen viele Initiativen auf eine bessere Vernetzung von Expertinnen und Experten, wie zum Beispiel Initiativen das Nationale Aktionsbündnis von Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) und TRANSLATE-NAMSE [
      • Winten und C.
      • Werner J.
      „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) – Derzeitiger Sachstand und Ausblick.
      ,
      • Grüters-Kieslich A.
      • Burgard P.
      • Berner R.
      • Hoffmann G.F.
      und TRANSLATE-NAMSE-Konsortium, „Zentren für seltene Erkrankungen: Umsetzung des Konzepts in die Praxis.
      ,
      • Halbach A.
      • Schnieders B.
      • Knufmann-HappeF K.
      „7 Jahre Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen: NAMSE – ein Erfolgsmodell?.!.
      ]. Neben der Kooperation zwischen Ärztinnen und Ärzten treten zunehmend Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige als Expertinnen und Experten für die unterschiedlichen Seltenen Erkrankungen auf. Neben separaten Selbsthilfegruppen für einzelne Krankheitsbilder, unterstützen auch übergreifende Vereine wie die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e. V. (ACHSE), Betroffene zu verbinden, Wissen zu teilen und die Gesellschaft für die Probleme von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu sensibilisieren [
      • Brunsmann F.
      • von Gizycki R.
      • Rybalko A.
      • Hildebrandt A.G.
      • Rüther K.
      „Patientenselbsthilfe und seltene Erkrankungen: Mitgestaltung der Versorgungsrealität am Beispiel seltener Netzhautdegenerationen.
      ,
      • Alsmeier und G.
      • Rath D.
      „Selbsthilfearbeit bei einer seltenen chronischen Erkrankung.
      ].
      Neben der Stärkung der interdisziplinären und interregionalen Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten wird eine große Chance in der Digitalisierung der Diagnosefindung gesehen. So heben König et al. die Bedeutsamkeit von Anwendungen hervor, die beispielsweise durch komplexe Big-Data-Ansätze (z. B. Data-Mining-Verfahren zur Analyse von großen Datenmengen) die Diagnosezeit deutlich verkürzen [
      • König J.
      • Grigull L.
      • Fritsch H.-W.
      • Klawonn F.
      „IT-Unterstützung zur Diagnosefindung seltener Erkrankungen – Umfassende Datenanalyse bei komplexen Fällen.
      ].
      Die genannten Lösungsvorschläge – Bildungsangebote, befürwortende Rechtslage, interdisziplinäre Kooperationen und IT-Unterstützung – begünstigen eine stetige Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Dennoch zeigt die aktuelle Forschung Lücken hinsichtlich der Prozessbetrachtung des gesamten Versorgungspfads von Menschen mit Seltenen Erkrankungen und der Betrachtung von Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen entlang des Prozesses auf. Obwohl Initiativen wie NAMSE eine zentralisierte Versorgung durch gut vernetzte Expertinnen und Experten fokussieren [
      • Winten und C.
      • Werner J.
      „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) – Derzeitiger Sachstand und Ausblick.
      ], ist der erste Anlaufpunkt für Patientinnen und Patienten weiterhin die Hausärztin und der Hausarzt, der teilweise noch nicht ausreichend betrachtet wird, wie Blöß et al. in ihrer Studie beschreiben [
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ]. Im Gegensatz zu der Arbeitsweise der Zentren für Seltenen Erkrankungen [
      • Grüters-Kieslich A.
      • Burgard P.
      • Berner R.
      • Hoffmann G.F.
      und TRANSLATE-NAMSE-Konsortium, „Zentren für seltene Erkrankungen: Umsetzung des Konzepts in die Praxis.
      ,
      • Halbach A.
      • Schnieders B.
      • Knufmann-HappeF K.
      „7 Jahre Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen: NAMSE – ein Erfolgsmodell?.!.
      ], sind die Prozesse der hausarztzentrierten Behandlung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen bisher noch nicht ausreichend etabliert oder erforscht [
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ]. Außerdem zeigen aktuelle Studien, dass zwar IT-Anwendungen speziell für den Kontext der Seltenen Erkrankungen entwickelt werden, aber dennoch unklar bleibt, inwiefern diese IT-Systeme in der alltäglichen Versorgung von Patientinnen und Patienten angewendet werden [
      • Schaaf J.
      • Sedlmayr M.
      • Schaefer J.
      • Storf H.
      „Diagnosis of Rare Diseases: a scoping review of clinical decision support systems.
      ,

      M. Kümmel, B. Sedlmayr, F. Bathelt, J. Schmitt, und M. Sedlmayr, „Big Data Anwendungen im Kontext seltener Erkrankungen“, S. DocAbstr. 143, doi: 10.3205/19gmds099.

      ].
      Innerhalb des vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekts „Einsatzmöglichkeiten und klinischer Nutzen von Big Data Anwendungen im Kontext Seltener Erkrankungen“ (BIDA-SE) wurde ein praxisnahes, interdisziplinäres Szenario entwickelt, das verdeutlicht wie IT-Anwendungen die Versorgungspraxis von Menschen mit Seltenen Erkrankungen verbessern können. Als Grundlage dafür diente eine Ist-Analyse, welche die aktuelle Versorgungssituation und IT-Landschaft betrachtete. Infolgedessen ist das Ziel der vorliegenden Arbeit einerseits die Darstellung der interdisziplinären Prozesse der Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen, die sowohl die Arbeitsweise von Zentren für Seltene Erkrankungen als auch die hausarztzentrierte Behandlung berücksichtigen; andererseits werden dazu ergänzend die Potentiale für den Einsatz von IT-Anwendungen anhand der entsprechenden Teilprozesse identifiziert.

      Methode

      Für die Erschließung der Inhalte wurden drei Schritte unternommen: (1) Eine initiale Modellierung des Versorgungspfads zur Visualisierung der Prozessschritte der Diagnostik und Behandlung von Seltenen Erkrankungen, (2) ein Workshop mit Expertinnen und Experten zur Detaillierung des aktuellen Versorgungspfads und (3) ein weiterer Workshop zur Identifikation des Potentials von IT-Anwendungen innerhalb des Versorgungprozesses. Die Durchführung der Workshops wurde von der Ethikkommission an der Technischen Universität Dresden genehmigt und zustimmend bewertet (EK 223052019).

      Initiale Modellierung des Versorgungspfades

      Das initiale Modell des Versorgungspfades und dessen Teilprozesse wurde auf Basis einer selektiven Literaturrecherche definiert. Die nachgelagerte Verifizierung innerhalb von Workshops mit Expertinnen und Experten machte eine systematische Literaturrecherche an diesem Punkt obsolet. Hierfür wurden Prozesse der Diagnostik und Behandlung von Seltenen Erkrankungen sowie standardisierte Prozesse innerhalb deutscher Förderprojekte von Zentren für Seltene Erkrankungen, wie beispielsweise TRANSLATE-NAMSE [
      • Winten und C.
      • Werner J.
      „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) – Derzeitiger Sachstand und Ausblick.
      ,
      • Grüters-Kieslich A.
      • Burgard P.
      • Berner R.
      • Hoffmann G.F.
      und TRANSLATE-NAMSE-Konsortium, „Zentren für seltene Erkrankungen: Umsetzung des Konzepts in die Praxis.
      ,
      • Halbach A.
      • Schnieders B.
      • Knufmann-HappeF K.
      „7 Jahre Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen: NAMSE – ein Erfolgsmodell?.!.
      ], ermittelt. Die Recherche erfolgte in PubMed und Web of Science und schloss deutsch- und englischsprachige Artikel zu dem folgenden Suchbegriff ein: „(Care Path OR Pathway OR Process OR Steps OR Diagnosis OR Treatment OR Center) AND (Rare Diseases OR Orphan Diseases)“). Literatur zu medizinischen Studien (z. B. zu expliziten Krankheitsbildern) und pharmakologischen Studien (z. B. zum Einsatz von „Orphan Drugs“) wurden nicht beachtet.
      Für die Visualisierung der einzelnen Prozessschritte wurde der Versorgungspfad mittels Business Process Model and Notation (BPMN) modelliert und unter Verwendung des Programms CAMUNDA
      https://camunda.com/de/products/camunda-bpm/ (letzter Zugriff: 23.02.2021)
      visualisiert. Die Entscheidung für diese Modellierungssprache basierte auf den Vorteilen von BPMN: Verständlichkeit für verschiedene Zielgruppen, Definition von Ausnahmen, Elemente für die Strukturierung des Prozesses (z. B. Pools und Lanes für die Darstellung der Stakeholder) und Anwendbarkeit auf medizinische Prozesse [

      R. Müller und A. Rogge-Solti, „BPMN for Healthcare Processes“, 2011, S. 65-72, Zugegriffen: Dez. 13, 2020. [Online]. Verfügbar unter: https://www.researchgate.net/profile/Dieter_Schuller/publication/220805202_Dienstgute-basierte_Service-Selektion_fur_Zustandsbehaftete_Services/links/0a85e5342922185512000000/Dienstguete-basierte-Service-Selektion-fuer-Zustandsbehaftete-Services.pdf#page=64.

      ]. Die Modelle wurden durch die Co-Autorinnen und -Autoren mit den Schwerpunkten Medizinische Informatik und Versorgungsforschung überprüft und in einer gemeinsamen Diskussionsrunde konsentiert (MZ, BS, AK, FB) sowie um das Wissen eines medizinischen Experten (SH) ergänzt.

      Workshop zur Detaillierung des Versorgungspfads

      Die so entwickelten Modelle wurden in einem ersten Workshop mit insgesamt sechs Expertinnen und Experten für die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankung diskutiert und validiert. Beteiligt waren dabei Ärztinnen und Ärzte der ambulanten und stationären Versorgung (n = 5) sowie nicht-medizinische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Zentren für Seltene Erkrankungen (n = 1).
      Der Workshop orientierte sich an dem Vorgehen innerhalb von Fokusgruppen [
      • Tong A.
      • Sainsbury P.
      • Craig J.
      „Consolidated criteria for reporting qualitative research (COREQ): a 32-item checklist for interviews and focus groups.
      ]: Zunächst wurde den Teilnehmenden die Modellierungssprache erläutert und ein Überblick über das Gesamtmodell gegeben, danach wurden nacheinander die Teilmodelle vorgestellt und diskutiert. Im Anschluss daran wurden die Teilmodelle erneut betrachtet und schrittweise durch die Teilnehmenden verifiziert. Um die aktuelle Versorgungssituation abbilden zu können, wurden die Teilnehmenden aufgefordert, das initial entwickelte Prozessmodell zu detaillieren. Die Gruppendiskussion diente der Identifikation von individuellen und konsentierten Perspektiven auf den aktuellen Versorgungspfad. Hierfür wurden Fragen zu den Teilprozessen (Arten, Aufgaben, Reihenfolgen) zuvor in einem Moderationsleitfaden festgehalten:
      • Stimmt das Vorgehen bzw. die Abfolge der Tätigkeiten?
      • Sind die Verantwortlichkeiten korrekt benannt und den entsprechenden Rollen zugeordnet?
      • Sind die verwendeten Dokumente / Systeme / Materialien, die bei der Durchführung relevant sind, korrekt?
      • Sind die Ergebnisse des Prozesses korrekt? Sind die möglichen Ausgänge korrekt?
      • Gibt es Alternativen zu diesem Prozess?
      Bei der Betrachtung der einzelnen Teilmodelle wurden außerdem erste Grenzen und Barrieren sowie Einsatzmöglichkeiten für IT-Anwendungen erfragt:
      • Welche Barrieren sind Ihrer Meinung nach bezogen auf die Ablauforganisation oder eine fehlende technologische Unterstützung besonders problematisch?
      • An welcher Stelle kann der Prozess durch technologische Unterstützung wirksam verbessert werden?
      Die Positionen der Teilnehmenden wurden zunächst mündlich vor dem Plenum dargelegt und parallel schriftlich erfasst. Anschließend wurden die einzelnen Aspekte hinsichtlich der (subjektiv empfundenen) Relevanz priorisiert, im Plenum diskutiert und abgestimmt. Die Abstimmung erfolgte im Rahmen eines formalen Konsensverfahren [
      • Dunham R.B.
      „Nominal group technique: a users’ guide“, Madison Wis. Sch. Bus., 1998.
      ]. Dabei wurde jede Position gleichberechtigt gehandhabt. Zudem wurden alle Zwischenergebnisse der Diskussion dokumentiert und nach Abschluss des Workshops allen Teilnehmenden zur Verfügung gestellt.

      Workshop für die Identifikation von Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen anhand des Versorgungspfads

      Für die Identifikation von Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen wurde ein zweiter Workshop mit insgesamt zehn Expertinnen und Experten durchgeführt. Dazu gehörten die Beteiligten des Prozesses, insb. Ärztinnen und Ärzte (n = 3), Patientinnen und Patienten / Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter (n = 2), Versorgungsforscherinnen und Versorgungsforscher (n = 2) sowie Expertinnen und Experten der Krankenhaus-IT (n = 1), der IT-Sicherheit (n = 1) und des Datenschutzes (n = 1).
      Den Teilnehmenden wurde der im ersten Workshop konsentierte Versorgungspfad sowie ausgewählte IT-Anwendungen präsentiert. Die IT-Anwendungen wurden mit Hilfe einer selektiven Literatur- und Marktrecherche (Suchbegriff: „(Tool OR Application OR Software OR Decision Support System OR Big Data) AND (Rare Diseases OR Orphan Diseases)“) ermittelt und den Teilnehmenden vor dem Workshop in einem Portfolio zur Verfügung gestellt, welches eine Beschreibung der IT-Anwendungen sowie mögliche Vor- und Nachteile beinhaltete (in Anlehnung an [

      M. Kümmel, B. Sedlmayr, F. Bathelt, J. Schmitt, und M. Sedlmayr, „Big Data Anwendungen im Kontext seltener Erkrankungen“, S. DocAbstr. 143, doi: 10.3205/19gmds099.

      ]). Die Auswahl diente als erster Anhaltspunkt für einen möglichen Einsatz und konnte durch individuelle Wünsche der Teilnehmenden erweitert werden. Gemeinsam sollten diese darauf aufbauend ein Szenario erarbeiten, wie ein zukünftiger Versorgungspfad für Menschen mit Seltenen Erkrankungen unterstützt durch IT-Anwendungen aussehen könnte.
      In Anlehnung an den ersten Workshops der Fokusgruppe wurde hierfür ebenfalls ein Moderationsleitfaden erstellt, der spezifischen Leitfragen für die jeweiligen Zielgruppen beinhaltete (siehe Tabelle 1).
      Tabelle 1Überblick über die Leitfragen je Zielgruppe für die Identifikation von Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen anhand des Versorgungspfads.
      ZielgruppeLeitfragen
      Ambulant und stationär tätige (Fach-) Ärztinnen und Ärzte sowie (nicht-) medizinische Zentrumskoordinatorinnen und Zentrumskoordinatoren• Hätten die Ärztinnen und Ärzte ein Bedürfnis für eine solche IT-Unterstützung?

      • Bei welchem Schritt des Versorgungspfades ist generell eine Verbesserung des Umfangs und / oder der Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen notwendig?

      • Durch welche der vorgestellten Anwendungen können Ihrer Meinung nach Umfang und Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen verbessert werden?

      • Wie schätzen Sie die Auswirkungen der IT-Unterstützung auf die konkrete Patientenversorgung ein?
      Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter• Hätten Patientinnen und Patienten ein Bedürfnis für eine solche Anwendung?

      • Bei welchem Schritt des Versorgungspfades ist generell eine Verbesserung des Umfangs und / oder der Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen notwendig?

      • Durch welche der vorgestellten Anwendungen können Umfang und Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen verbessert werden?

      • Wie schätzen Sie die Auswirkungen der IT-Unterstützung auf die konkrete Patientenversorgung ein?
      Versorgungsforscherinnen und Versorgungsforscher• Bei welchem Schritt des Versorgungspfades ist generell eine Verbesserung des Umfangs und / oder der Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen notwendig?

      • Durch welche der vorgestellten Anwendungen können Umfang und Qualität der Versorgung bei Seltenen Erkrankungen verbessert werden?

      • Wie schätzen Sie die Auswirkungen der IT-Unterstützung auf die konkrete Patientenversorgung ein?
      Expertinnen und Experten für Krankenhaus-IT und IT-Sicherheit• Ist der Einsatz der Anwendungen aus technologischer Sicht machbar (z. B. Interoperabilität)? Inwieweit beinhalten die Anwendungen Sicherheitsrisiken (z. B. Safety und Security)?

      • Welche technologischen Voraussetzungen existieren für den Einsatz bzw. wären zu beachten?

      • Wäre der Einsatz einer solchen Anwendung im professionellen Umfeld zulässig, zu empfehlen, problematisch oder gänzlich zu vermeiden?
      Expertinnen und Experten des Datenschutzes• Ist der Einsatz der Anwendungen aus Sicht des Datenschutzes bedenklich?

      • Inwieweit beinhaltet die Anwendung datenschutzrelevante Risiken?

      • Welche gesetzlichen Voraussetzungen existieren für den Einsatz bzw. wären zu beachten?

      • Wäre der Einsatz einer solchen Anwendung im professionellen Umfeld zulässig, zu empfehlen, problematisch oder gänzlich zu vermeiden?
      Analog zum ersten Workshop wurden die Positionen und Beiträge der Teilnehmenden erfasst und an einem Schaubild visualisiert. Anschließend wurden die verschiedenen Aspekte hinsichtlich ihrer (subjektiv wahrgenommenen) Relevanz und (mittelfristigen) Umsetzbarkeit priorisiert. Abschließend wurden die Priorisierungen im Plenum diskutiert und abgestimmt. Die Abstimmung erfolgte auch hier im Rahmen eines formalen Konsensverfahren [
      • Dunham R.B.
      „Nominal group technique: a users’ guide“, Madison Wis. Sch. Bus., 1998.
      ]. Alle dabei entstandenen Ergebnisse wurden transparent dokumentiert und visualisiert.

      Ergebnisse

      Versorgungspfad

      Abbildung 1 zeigt – entsprechend der unterschiedlichen medizinischen Professionen gekapselt – die bis zu acht Stationen, die Menschen mit Seltenen Erkrankungen im Rahmen eines Versorgungspfades durchlaufen. Dabei kann es zu verschiedenen Wiederholungen und Reihenfolgen der einzelnen Stationen kommen. Die detaillierten Prozessmodelle unter Angabe der Einsatzmöglichkeiten für IT-Anwendungen können im Anhang (Appendix A) betrachtet werden.
      Figure thumbnail gr1
      Abbildung 1Abstrahierte Abbildung des groben Prozessmodells eines möglichen Versorgungspfads für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (Original: Abbildung 1).

      Erweitertes Neugeborenen-Screening

      Das erweiterte Neugeborenen-Screenings untersucht 15 Zielkrankheiten (Stand 2020), die sowohl Stoffwechselkrankheiten als auch endokrinologische Krankheiten sowie Mukoviszidose (Zystische Fibrose, CF) [
      • Gramer G.
      • Nennstiel-Ratzel U.
      • und G.F.
      • Hoffmann
      „50 Jahre Neugeborenenscreening in Deutschland: Bisherige Ergebnisse und zukünftige Herausforderungen.
      ] umfassen. Aufgrund der hohen Standardisierung des Neugeborenen-Screenings [
      • Gramer G.
      • Hauck F.
      • Lobitz S.
      • Sommerburg O.
      • Speckman C.
      • Hoffmann G.F.
      „Neugeborenenscreening 2020 Perspektiven der Krankheitsfrüherkennung“, Monatsschr.
      ,
      • Gramer G.
      • Hoffmann G.F.
      • Nennstiel-Ratzel U.
      Das erweiterte Neugeborenenscreening: Erfolge und neue Herausforderungen.
      ], die, wie man an dem Beispiel der Mukoviszidose sieht [
      • Sommerburg O.u.a
      „Neugeborenenscreening auf Mukoviszidose in Deutschland: Vergleich des neuen Screening-Protokolls mit einem Alternativprotokoll.
      ], teilweise konkrete Prozessabläufe enthalten, und aufgrund der sich daraus ergebenden geringen Variabilität im Prozessablauf, wird dieser Teilprozess nachfolgend nicht detailliert betrachtet.

      Suche nach ärztlichem Rat

      Sollte eine Seltene Erkrankung nicht innerhalb des Neugeborenen-Screenings diagnostiziert werden, erfolgt eine Diagnosestellung typischerweise nach dem Auftreten von Symptomen; in seltenen Fällen erfolgt eine Diagnostik auf Grundlage von familiären, genetischen Vorbelastungen. Der Prozess der Station 1 „Suche nach ärztlichem Rat“ ist in Appendix A, Abbildung 3 dargestellt.

      Ambulante Betreuung durch die Hausärztin und den Hausarzt

      Bei der Diagnose von Seltenen Erkrankungen spielen hausärztlich niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte für Allgemeinmedizin, Innere Medizin oder Pädiatrie – nachfolgend werden die Akteurinnen und Akteure der Grundversorgung als Hausärztinnen und Hausärzte bezeichnet – eine wichtige Rolle. Sie sind der erste Anlaufpunkt für Patientinnen und Patienten, wenn Symptome wahrgenommen werden [
      • Evans und W.R.
      • Rafi I.
      „Rare diseases in general practice: recognising the zebras among the horses.
      ], außerdem erfolgt eine Überweisung zu weiteren fachärztlichen Spezialistinnen und Spezialisten meist erst nach hausärztlicher Diagnostik [
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ].
      Wenn die Seltene Erkrankung nicht korrekt diagnostiziert wird, erfolgt oftmals ein sogenanntes Watchful Waiting, also ein „beobachtendes Abwarten“, oder eine Überweisung an Fachärztinnen und Fachärzte. Der Prozess der Station 2 „Ambulante Betreuung durch Hausärztin und Hausarzt“ ist in Appendix A, Abbildung 4 dargestellt.

      Ambulante Betreuung durch die Fachärztin und den Facharzt

      Die ambulante Betreuung durch Fachärztinnen und Fachärzte entspricht den Prozessen der ambulanten Betreuung durch Hausärztinnen und Hausärzte; wobei eine spezialisierte Untersuchung entsprechend der medizinischen Fachrichtung stattfindet. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden (in unterschiedlicher Zuverlässigkeit und Qualität) an die überweisenden Hausärztinnen und Hausärzte zurückübermittelt. Der Prozess der Station 3 „Ambulante Betreuung durch Fachärztin und Facharzt“ ist in Appendix A, Abbildung 5 dargestellt.

      Betreuung durch die Spezialambulanz

      Wenn die Patientinnen und Patienten bedrohliche Symptome aufweisen erfolgt entweder eine Einweisung in eine Spezialambulanz oder in eine Klinik (siehe Kapitel „Betreuung durch die Klinik“). Unter einer Spezialambulanz wird dabei eine Krankenhausabteilung verstanden, die eine ambulante Betreuung in einem bestimmten Spezialgebiet anbietet (z. B. eine Spezialambulanz für Mukoviszidose). Dort werden die Patientinnen und Patienten symptomorientiert behandelt. Wenn hierbei eine Diagnose gestellt werden kann, können die Patientinnen und Patienten entsprechend therapiert oder an andere fachärztliche Spezialistinnen und Spezialisten verwiesen werden. Gegebenenfalls wird eine Seltene Erkrankung vermutet und ein Zentrum für Seltene Erkrankungen um Unterstützung gebeten. Der Prozess der Station 4 „Betreuung durch Spezialambulanz“ ist in Appendix A, Abbildung 6 dargestellt.

      Betreuung durch die Klinik

      Analog zur Betreuung durch die Spezialambulanz werden die Patientinnen und Patienten innerhalb einer Klinik entsprechend ihrer Symptome behandelt. Im Weiteren kann auch hier die weiterführende Diagnostik oder Behandlung durch fachärztliche Spezialistinnen und Spezialisten folgen. Der Prozess der Station 5 „Betreuung durch Klinik“ ist in Appendix A, Abbildung 7 dargestellt.

      Betreuung durch ein Zentrum für Seltene Erkrankungen

      Die Betreuung innerhalb eines Zentrums für Seltene Erkrankungen unterteilt sich in zwei Teilprozesse: (1) Die Sichtung des Falls (siehe Kapitel „Sichtung des Falls“) und (2) die darauffolgende Fallkonferenz (siehe Kapitel „Fallkonferenz“); dies orientiert sich an der Prozessbeschreibung von TRANSLATE-NAMSE [
      • Winten und C.
      • Werner J.
      „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) – Derzeitiger Sachstand und Ausblick.
      ,
      • Grüters-Kieslich A.
      • Burgard P.
      • Berner R.
      • Hoffmann G.F.
      und TRANSLATE-NAMSE-Konsortium, „Zentren für seltene Erkrankungen: Umsetzung des Konzepts in die Praxis.
      ,
      • Halbach A.
      • Schnieders B.
      • Knufmann-HappeF K.
      „7 Jahre Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen: NAMSE – ein Erfolgsmodell?.!.
      ]. Die Teilprozesse der Station 6 „Betreuung durch Zentrum für Seltene Erkrankungen (inkl. Sichtung des Falls und Fallkonferenz)“ werden einzeln betrachtet: Der Prozess der Station 6a „Sichtung des Falls“ ist in Appendix A, Abbildung 8 und der Prozess der Station 6b „Fallkonferenz“ ist in Appendix A, Abbildung 9 dargestellt.

      Sichtung des Falls

      Um den Fall der Patientinnen und Patienten besser zu erschließen, werden Fragebögen an die Betroffenen sowie an die überweisenden Ärztinnen und Ärzte versendet. Die ausgefüllten Fragebögen werden mit der Patientenakte zusammengeführt und die medizinischen Koordinatorinnen und Koordinatoren des Zentrums für Seltene Erkrankungen erstellen dann eine sogenannte Vignette. Diese enthält die wichtigsten Informationen über den Fall anhand derer die relevanten Fachbereiche für die Fallkonferenz ausgewählt werden und die damit als Entscheidungsgrundlage dienen.

      Fallkonferenz

      Innerhalb der Fallkonferenz wird der Fall der Patientinnen und Patienten ergründet. Wenn eine bestimmte Erkrankung (sowohl nicht selten als auch selten) vermutet wird, dann wird eine Epikrise verfasst und die Patientinnen und Patienten werden an die entsprechenden fachärztlichen Spezialistinnen und Spezialisten verwiesen. Wenn eine unklare Seltene Erkrankung vermutet wird, wird ebenfalls eine Epikrise verfasst und das Krankheitsbild wird mit Hilfe von kooperierenden Zentren für Seltene Erkrankungen, Selbsthilfegruppen, kooperierenden Kolleginnen und Kollegen und / oder in sogenannten großen Boards (teilweise öffentliche Fallkonferenzen mit weiteren Expertinnen und Experten) tiefergehend ergründet. Außerdem können genetische Untersuchungen angeordnet werden. Innerhalb der Fachabteilungen oder Institute für klinische Genetik wird analysiert, ob relevante Auffälligkeiten vorliegen, die entweder auf ein bestimmtes Krankheitsbild oder auf ein Organsystem hinweisen.
      Die neuen Erkenntnisse, die mittels der Fallkonferenz und der weiterführenden Untersuchungen gewonnen werden, können zu einer Aktualisierung des Patientenfalls führen, der in einer weiteren Fallkonferenz diskutiert wird.

      Behandlung und Therapie

      Nach der Diagnose der Seltenen Erkrankung durch die unterschiedlichen medizinischen Professionen werden die Patientinnen und Patienten (idealerweise anhand eines individuellen Plans) oftmals ambulant therapiert und behandelt. Der Prozess der Station 7 „Behandlung und Therapie“ ist in Appendix A, Abbildung 10 dargestellt.

      Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen anhand des Versorgungspfads

      Die Tabelle 2 zeigt die von den Expertinnen und Experten der Fokusgruppe aus den Workshops gewünschten IT-Anwendungen entsprechend der Teilprozesse des Versorgungspfads.
      Tabelle 2Überblick über Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen für die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen (• = Potential der IT-Anwendung innerhalb der Station identifiziert).
      Station des Versorgungspfades123456.a6.b7
      IT-Anwendung
      Register
      Register mit Informationen über Expertinnen und Experten
      Register mit Informationen über Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten
      Zentrale Register Stelle für Behandlungen von Seltenen Erkrankungen
      Register mit vergleichbaren Befunden und / oder vergleichbaren Patientinnen und Patienten
      Register mit Informationen über klinische Studien
      Register mit klinischen Leitlinien
      Diagnoseunterstützung
      Hinweise auf medizinische Auffälligkeiten
      Behandlungsunterstützung
      Warnsystem bei Fehlbehandlungen
      Behandlungshinweise / Notfallhinweise
      Digitale Hilfsmittel
      Digitaler Befund und Befund-Plattform
      Digitale Überweisung mit „Überweisung-Tracking“
      Digitaler Fragebogen
      Digitale Vignette
      Virtuelle Konzile / virtuelle Beratung
      Digitale Patienteninformationen
      Der Überblick (siehe Appendix A) zeigt, dass bei der Betreuung durch Hausärztinnen und Hausärzte (siehe Kapitel „Ambulante Betreuung durch die Hausärztin und den Hausarzt“), Fachärztinnen und Fachärzte (siehe Kapitel „Ambulante Betreuung durch die Fachärztin und den Facharzt“), Spezialambulanzen (siehe Kapitel „Betreuung durch die Spezialambulanz“) und Kliniken (siehe Kapitel „Betreuung durch die Klinik“) ähnliche IT-Anwendungen eingesetzt werden sollten. Hierzu zählen diverse Register und Entscheidungsunterstützung für die Diagnostik und Behandlung sowie weitere digitale Hilfsmittel, die dazu beitragen Informationen über die Patientinnen und Patienten auszutauschen.
      Bei der Betreuung innerhalb eines Zentrums für Seltene Erkrankungen (siehe Kapitel „Sichtung des Falls“ und Kapitel „Fallkonferenz“) werden zusätzliche digitale Hilfsmittel wie der digitale Fragebogen und die digitale Vignette benötigt.
      Für die Behandlung und Therapie von Menschen mit Seltenen Erkrankungen (siehe Kapitel „Behandlung und Therapie“) wünscht sich die Fokusgruppe zusätzlich Register für klinischen Studien und Register für klinische Leitlinien sowie eine automatische Übermittlung von Informationen an die Patientinnen und Patienten.

      Diskussion

      Diskussion der Ergebnisse

      Bei der (Prozess-) Analyse der aktuellen Versorgungssituation sowie der Diskussion mit Expertinnen und Experten in den Workshops wurde offensichtlich, dass Seltene Erkrankungen nicht nur selten auftreten, sondern auch selten schnell und korrekt diagnostiziert werden. Das ist darin begründet, dass die Problematik der Seltenen Erkrankungen in der medizinischen Praxis häufig noch unbekannt ist. Das führt wiederum zu längeren Diagnosewegen und zu wiederholten Anamneseprozessen und mehrfachen Untersuchungen. Dabei wird der Überblick über den gesamten Versorgungsprozess bzw. über den aktuellen Zustand der Patientinnen und Patienten sehr erschwert.
      Unsere Untersuchung zeigte, dass die Versorgungspfade für Menschen mit Seltenen Erkrankungen komplex sind und einen hohen Grad an Heterogenität aufweisen. Erschwerend kommt die mehrfache Dokumentation in unterschiedlichen Dokumentationssystemen, Kodierungssystemen und multiplen Patientenakten hinzu. Das Problem der sektorenübergreifenden Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Prozessbeteiligten stellt sich bei der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen besonders in den Vordergrund. Diese „Odyssee“ wurde bereits in anderen Studien beschrieben [
      • Schieppati A.
      • Henter J.-I.
      • Daina E.
      • Aperia A.
      Why rare diseases are an important medical and social issue.
      ,
      • Graf von der Schulenburg und J.-M.
      • Frank M.
      „Rare is frequent and frequent is costly: rare diseases as a challenge for health care systems.
      ,
      • Blöß S.u.a.
      „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
      ,
      • Dharssi S.
      • Wong-Rieger D.
      • Harold M.
      • Terry S.
      „Review of 11 national policies for rare diseases in the context of key patient needs.
      ] und ist ebenfalls in den Prozessmodellen erkennbar: Die Prozesse weisen unterschiedliche Varianten mit vielen Verzweigungen und Wiederholungen auf. Außerdem verdeutlichen sie, dass die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen ein hohes Maß an Interdisziplinarität erfordert; so erfolgt die Diagnosestellung sowie die Behandlung und Therapie oftmals sektorenübergreifend und in Kooperation zwischen verschiedenen medizinischen Gesundheitseinrichtungen und Professionen.
      Bei der Analyse der aktuellen IT-Landschaft wird deutlich, dass IT-Anwendungen an vielen Prozessschritten der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen diverse Einsatzmöglichkeiten aufweisen. Erkennbar ist ein hoher Bedarf an unterschiedlichen Registern. So wünschen sich die Expertinnen und Experten die Bereitstellung von aggregierten Informationen, sodass ihnen ein selbstbestimmter Wissensgewinn ermöglicht wird. Dies verdeutlicht den Bedarf und den Wunsch nach genauerer Erforschung von Seltenen Erkrankungen. Innerhalb der Diskussionen in den Fokusgruppen wurde deutlich, dass die gewünschten IT-Anwendungen nicht nur auf Seltene Erkrankungen, sondern auch nicht seltene, unklare Erkrankungen fokussieren sollen.
      Obwohl die Expertinnen und Experten durch eigene Erfahrungen und das zur Verfügung gestellte Portfolio an Tools für Seltene Erkrankungen über den aktuellen Stand der Technik informiert waren, decken sich die Wünsche nur vereinzelt mit bereits existierenden IT-Anwendungen, die für die Diagnose und Behandlung sowie Therapie für Menschen mit Seltenen Erkrankungen entwickelt wurden und in der medizinischen Praxis verwendet werden [
      • Schaaf J.
      • Sedlmayr M.
      • Schaefer J.
      • Storf H.
      „Diagnosis of Rare Diseases: a scoping review of clinical decision support systems.
      ,

      M. Kümmel, B. Sedlmayr, F. Bathelt, J. Schmitt, und M. Sedlmayr, „Big Data Anwendungen im Kontext seltener Erkrankungen“, S. DocAbstr. 143, doi: 10.3205/19gmds099.

      ]. Beispiele wurden den Teilnehmenden in einem Portfolio zur Verfügung gestellt (siehe Kapitel „Workshop für die Identifikation von Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen anhand des Versorgungspfads“). Dabei können derzeitig vier Gruppen an IT-Anwendungen für den Kontext Seltener Erkrankungen identifiziert werden (in Anlehnung an [

      M. Kümmel, B. Sedlmayr, F. Bathelt, J. Schmitt, und M. Sedlmayr, „Big Data Anwendungen im Kontext seltener Erkrankungen“, S. DocAbstr. 143, doi: 10.3205/19gmds099.

      ]).
      • (1)
        IT-Anwendungen für die Dokumentation und Benennung von Seltenen Erkrankung sowie Register für Expertinnen und Experten: Es existieren bereits Register für die Benennung von Seltenen Erkrankungen, wie beispielweise Orphanet [
        • Pavan S.
        • Rommel K.
        • Mateo Marquina M.E.
        • Höhn S.
        • Lanneau V.
        • Rath A.
        „Clinical Practice Guidelines for Rare Diseases: The Orphanet Database.
        ]. Das Portal beinhaltet eine Datenbank, die Informationen über Seltene Erkrankungen aggregiert und deren Orpha Code – ein eindeutiger Identifier – listet. Ein weiteres Beispiel ist se-atlas, der Informationen über Versorgungseinrichtungen (z. B. spezialisierte Zentren für seltene Erkrankungen, Selbsthilfegruppen) für seltene Erkrankungen zusammenführt und geographisch visualisiert [
        • Haase J.
        • Wagner T.O.F.
        • Storf H.
        „se-atlas – Versorgungsatlas für Menschen mit seltenen Erkrankungen: Unterstützung bei der Recherche nach Versorgungseinrichtungen und Selbsthilfeorganisationen.
        ].
      • (2)
        IT-Anwendungen für die Differentialdiagnostik: Face2Gene und FindZebra sind Beispiele für den Einsatz von vorschlagsbasierten IT-Anwendungen für die Entscheidungsunterstützung während der Diagnosestellung. Face2Gene ist eine Anwendung, die anhand eines Fotos des Gesichts ein Ähnlichkeitsmaß zu genetischen Erkrankungen berechnet. Daraus resultiert eine Rangliste an möglichst passenden Krankheiten [
        • Gurovich Y.u.a.
        „Identifying facial phenotypes of genetic disorders using deep learning.
        ]. FindZebra stellt eine Suchmaschine für seltene Erkrankungen dar, so können Symptome und Phänotypen in ein Suchfeld eingegeben werden, woraufhin möglichst passende und ähnliche Erkrankungen sowie krankheitsassoziierte Gene gelistet werden [
        • Dragusin R.u.a.
        „FindZebra: A search engine for rare diseases.
        ]. Eine besondere Rolle bei der Diagnosestellung spielen außerdem Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI). So zeigen Schaefer et al. in ihrem Review, dass die meisten Studien, die KI-Verfahren im Kontext Seltener Erkrankungen anwenden, zur Diagnose (ca. 41%) und für die Prognose (ca. 38%) genutzt werden [
        • Schaefer J.
        • Lehne M.
        • Schepers J.
        • Prasser F.
        • Thun S.
        „The use of machine learning in rare diseases: a scoping review.
        ].
      • (3)
        IT-Anwendungen für die Behandlung und Therapie: Mittels der Data Collection Tools in Verbindung mit PROMIS (Patient-Reported Outcomes Measurement Information System) können Informationen über die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten telemedizinisch erfasst werden, indem beispielsweise Angaben über Schmerzen, emotionalen Stress und physiologische Funktionen dokumentiert werden [
        • Ader D.N.
        „Developing the Patient-Reported Outcomes Measurement Information System (PROMIS).
        ].
      • (4)
        IT-Anwendungen für den Austausch von Informationen: Soziale Netzwerke können bei der Sammlung und dem Austausch von Informationen helfen. So gibt es für Ärztinnen und Ärzte DataGenno, eine Plattform zum Austausch über vor allem genetische Fragen und Erkenntnissen oder für Patientinnen und Patienten PatientsLikeMe für den individuellen Austausch über Krankheits- und Behandlungsinformationen [
        • Costa F.F.
        „Social networks, web-based tools and diseases: implications for biomedical research“.
        ].
      Derzeitig ist aber unklar, inwiefern die bespielhaften IT-Anwendungen tatsächlich in der medizinischen Praxis genutzt werden. So zeigt eine Studie von Schaaf et al., in der 19 Entscheidungsunterstützungssysteme für Seltene Erkrankungen gesichtet wurden, dass es kaum Informationen über die klinische Nutzung (13 von 19 Systeme ohne Informationen) der Systeme gibt [
      • Schaaf J.
      • Sedlmayr M.
      • Schaefer J.
      • Storf H.
      „Diagnosis of Rare Diseases: a scoping review of clinical decision support systems.
      ]. In Zusammenhang mit dem Wunsch der Expertinnen und Experten, insbesondere in Hinblick auf Register, Diagnose- und Behandlungsunterstützung sowie digitale Hilfsmittel, lässt erkennen, dass übergreifende Ansätze zur Unterstützung der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen fehlen.

      Limitation der Studie

      Die Ergebnisse sind hinsichtlich des Fokus auf Zentren für Seltene Erkrankungen limitiert: So waren in den Fokusgruppen ausschließlich Expertinnen und Experten von deutschen Zentren für Seltene Erkrankungen vertreten, die an dem Projekt TRANSLATE-NAMSE teilnahmen und dementsprechende Prozesse etablierten. Dadurch lässt sich ein Fokus auf die stationäre Versorgung und den Zugang zu Zentren für Seltene Erkrankungen erkennen, der nicht in jedem Patientenfall gegeben sein muss. Auch blieben weitere Stakeholder des Prozesses, wie beispielsweise der Arzneimittelproduktion und –forschung, Kostenträger sowie (gesundheits-) politische Entscheidungsträger unberücksichtigt, da sie nahezu keinen unmittelbaren Einfluss auf die Diagnosefindung haben; dennoch können sie die Versorgung, insbesondere die Behandlung und Therapie, von Menschen mit Seltenen Erkrankungen beeinflussen [
      • Aymé und S.
      • Schmidtke J.
      „Networking for rare diseases: a necessity for Europe.
      ]. So wurden beispielsweise pharmazeutische Studien nicht beachtet, da deren Bedeutung auf Schnittstellen zwischen den Behandlern und medizinischen Versorgungssektoren sowie auf Einsatzmöglichkeit von IT-Anwendungen marginal ist.

      Diskussion der Methode

      Es ist zu beachten, dass Modelle ausschließlich einen Ausschnitt und niemals die Gesamtheit der Realwelt präsentieren, was dazu führt, dass einzelne Besonderheiten bei der individuellen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen nicht allumfassend in den abstrahierten Prozessmodellen widergespiegelt werden können. Die Nutzung von BPMN als Notation erlaubte es den Teilnehmenden nach einer kurzen Einführung die Modelle zu lesen, zu bewerten und eigenständig anzupassen. Die rege Beteiligung und das positive Feedback der Expertinnen und Experten lassen vermuten, dass sich die Workshops für die Erarbeitung eines gemeinsamen Verständnisses für die aktuelle Versorgungssituation und IT-Landschaft gut eigneten. Die Anlehnung der Workshops an Fokusgruppen ermöglichte die Berücksichtigung von unterschiedlichen Perspektiven.

      Schlussfolgerung

      Die Prozessmodelle visualisieren den aktuellen Versorgungspfad von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland sowie Einsatzmöglichkeiten von IT-Anwendungen für diesen Kontext. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurde im Projekt „BIDA-SE“ ein Zukunftsszenario für die Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankung mit Hilfe von IT-Anwendungen entwickelt. Dieses theoretische Szenario wurde evaluiert [
      • Sedlmayr B.
      • Knapp A.
      • Kümmel M.
      • Bathelt F.
      • und M.
      • Sedlmayr
      „Evaluation eines Zukunftsszenarios zur Nutzung von Big-Data-Anwendungen für die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen“.
      ], sodass Hürden und Barrieren sowie entsprechende Möglichkeiten zur Überwindung dieser benannt werden konnten.
      Die Prozessmodelle verdeutlichen nicht nur die Prozessbeteiligten und die Teilprozesse bei der Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen, sondern auch deren Schnittstellen. Schnittstellen bei der Versorgung bedeuten gleichzeitig auch Schnittstellen für die verwendeten IT-Anwendungen für die Versorgung. Somit lässt sich das hohe Maß an Interdisziplinarität zwischen den einzelnen medizinischen Sektoren und Gesundheitseinrichtungen auf Prozessebene ebenfalls auf die Ebene der IT-Anwendungen und der damit verbundenen Daten übertragen. Daher ist zu überprüfen, wie diese Schnittstellen bei dem Zusammenspiel von verschiedenen IT-Anwendungen in unterschiedlichen Bereichen (z. B. ambulante Versorgung und stationäre Versorgung) bedient werden. Infolgedessen ist die Betrachtung der erhobenen bzw. notwendigen Daten im Kontext Seltener Erkrankungen notwendig sowie ggf. die Untersuchung, inwiefern diese Daten bereits bei der Entwicklung der elektronischen Patientenakte (ePA) berücksichtigt wurden.
      Mit den notwendigen Schnittstellen an den verschiedenen Abschnitten des Versorgungspfades einher geht die steigende Bedeutung von standardisierten Terminologien sowie von einer hohen Qualität strukturiert erfasster Quelldaten. Gleichzeitig ist die Dokumentationsqualität derzeit noch eine offene Herausforderung. Hierfür werden zukünftig niederschwellig anwendbare Tools für die Dokumentationsprozesse entwickelt oder auf die Besonderheiten von Seltenen Erkrankungen angepasst. Dabei ist zu klären, inwiefern die unterschiedlichen IT-Anwendungen und unterschiedlichen Datensätzen in einer IT-Infrastruktur zusammengefasst werden können, die den Besonderheiten des interdisziplinären Versorgungspfades genügt.
      Die Betrachtung der aktuellen Versorgungssituation und IT-Landschaft für Menschen mit Seltenen Erkrankungen in Deutschland trägt dazu bei, dass Teilprozesse in Hinblick auf den gesamten Versorgungspfad detailliert und optimiert sowie zusätzliche Aspekte, die an die Prozesse gekoppelt sind (z. B. Daten- und Informationsfluss) untersucht werden können.

      Danksagung

      Die Ergebnisse stammen aus dem Projekt „Einsatzmöglichkeiten und klinischer Nutzen von Big Data Anwendungen im Kontext Seltener Erkrankungen“ (BIDA-SE; Förderkennzeichen: ZMVI1-2519DAT702), das vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert und gefördert wurde.
      Die in den Workshops erworbene Expertise wird derzeit gewinnbringend im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt „Collaboration on Rare Diseases“ (CORD; Förderkennzeichen: 01ZZ1911I) eingebracht.
      Die Autorinnen und Autoren bedanken sich ausdrücklich bei den Expertinnen und Experten für die Teilnahme an den Workshops; insbesondere bei dem UniversitätsCentrum für Seltene Erkrankung des Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden. Weiterer Dank gilt den studentischen Hilfskräften Liz Annika Leutner und Stefan Hager für die Unterstützung bei der Durchführung der Workshops.

      Interessenkonflikt

      Prof. Schmitt erhielt Honorare für Beratertätigkeit von Sanofi, ALK, Novartis und Lilly, sowie institutionelle Unterstützung für IITs von Sanofi, Pfizer, Novartis und ALK. Diese Tätigkeiten und Unterstützungen waren außerhalb des Fokus dieses Artikels. Die übrigen Autorinnen und Autoren erklären und bestätigen, dass keinerlei Interessenskonflikte vorliegen. Alle Autorinnen und Autoren erklären hiermit, dass ethische Leitlinien bei der Erstellung des Manuskriptes eingehalten wurden.

      Autorenschaft

      Michele Zoch: Konzeptualisierung, Projektmanagement, initiale Literaturrecherche und Prozessmodellierung, Portfolio an IT-Anwendungen, Durchführung der Workshops, Schreiben – Originalentwurf. Brita Sedlmayr: Konzeptualisierung, Methode, Durchführung der Workshops, Schreiben – Review und Lektorat. Andreas Knapp: Portfolio an IT-Anwendungen, Durchführung der Workshops, Schreiben – Review und Lektorat. Franziska Bathelt: Validierung der Prozessmodelle, Schreiben – Review und Lektorat. Sven Helfer: Medizinische Validierung der Prozessmodelle, Schreiben – Review und Lektorat. Jochen Schmitt: Fördermittelakquise, Schreiben – Review und Lektorat, Martin Sedlmayr: Fördermittelakquise, Supervision, Schreiben – Review und Lektorat.

      Appendix A. Supplementary data

      Literatur

        • Schieppati A.
        • Henter J.-I.
        • Daina E.
        • Aperia A.
        Why rare diseases are an important medical and social issue.
        The Lancet, Bd. 2008; 371 (S.): 2039-2041https://doi.org/10.1016/S0140-6736(08)60872-7
        • Graf von der Schulenburg und J.-M.
        • Frank M.
        „Rare is frequent and frequent is costly: rare diseases as a challenge for health care systems.
        Eur. J. Health Econ., Bd. 2015; 16: S113-S118https://doi.org/10.1007/s10198-014-0639-8
        • Aymé und S.
        • Schmidtke J.
        „Networking for rare diseases: a necessity for Europe.
        Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, Bd. 2007; 50: S1477-S1483https://doi.org/10.1007/s00103-007-0381-9
        • Blöß S.u.a.
        „Diagnostic needs for rare diseases and shared prediagnostic phenomena: Results of a German-wide expert Delphi survey“.
        PLOS ONE, Bd. 2017; 12https://doi.org/10.1371/journal.pone.0172532
        • Dharssi S.
        • Wong-Rieger D.
        • Harold M.
        • Terry S.
        „Review of 11 national policies for rare diseases in the context of key patient needs.
        Orphanet J. Rare Dis., Bd. 2017; 12: S63https://doi.org/10.1186/s13023-017-0618-0
        • Winten und C.
        • Werner J.
        „Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) – Derzeitiger Sachstand und Ausblick.
        Klin., Bd. 2015; 44: S10-S14https://doi.org/10.1055/s-0035-1544982
        • Grüters-Kieslich A.
        • Burgard P.
        • Berner R.
        • Hoffmann G.F.
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