Einleitung
Begrenzte Zeit für den Patienten – trotz Überstunden – so wird der Arbeitsalltag von ÄrztInnen der Erwachsenenmedizin in Deutschland beschrieben. Der Bericht des Nationalen Kontrollrates mit dem Titel „Mehr Zeit für Behandlung – Vereinfachung von Verfahren und Prozessen...“ (Abschlussbericht August 2015, Herausgeber Statistisches Bundesamt, Wiesbaden im Auftrag des Nationalen Kontrollrates; Download über:
www.destatis.de und
www.normenkontrollrat.de) wird unter der Überschrift „
Mehr Zeit für Behandlung möglich“ im Deutschen Ärzteblatt vom Dezember 2015 kurz dargestellt und zusammengefasst: „
Rund 100 Tage im Jahr brauchen sie (die niedergelassenen ÄrztInnen, Anm.),
um einer Unmenge von Informations- und Dokumentationspflichten nachzukommen“. Es wird ausgeführt, dass der stationäre Bereich der Medizin „
aus arbeitstechnischen Gründen“ nicht mit in die Untersuchung aufgenommen worden sei und der nächste Schritt darin bestehen solle, „
Bürokratiebelastung abzubauen“ [
[1]Bürokratie: Mehr Zeit für Behandlung möglich.
].
Collins et al beschrieben in den 90er Jahren als Ergebnis des „The Commonwealth Fund Survey of Physician Experiences with Managed Care“, dass 41% der Mediziner eine Reduktion der Zeit, die direkt mit dem Patienten verbracht wird, erfahren [
[2]Collins KS, Schoen C, Sandman DR. The Commonwealth Fund Survey of Physician Experiences with Managed Care, New York, 1997.
].
Bezüglich der Relevanz von der Arzt-Patienten-Zeit wurden insgesamt wenige internationale Studien durchgeführt, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Laine et al. erfassten mit ihrer Studie die von Patienten beurteilte Wichtigkeit von verschiedenen Arztkompetenzen [
[3]- Laine F.
- Davidoff C.E.
- Lewis
- et al.
Important elements of outpatient care: a comparison of patients’ and physicians’ opinions.
]. Patienten stellten die Vermittlung von gesundheitsbezogenen Informationen durch den Arzt an den Patienten, die zur Arzt-Patienten-Zeit beiträgt, in ihrer Wichtigkeit an die zweite Stelle, direkt nach dem klinischen Können der Ärzte.
Like et al. evaluierten die Patientenzufriedenheit [
[4]Patient satisfaction with the clinical encounter: social psychological determinants.
] und stellten fest, dass Patienten, die sich mehr Zeit mit dem Arzt gewünscht hatten (diese aber nicht bekommen hatten), insgesamt wenig zufrieden waren. Hinsichtlich der tatsächlich erfolgten Arzt-Patienten-Zeit und dem Zusammenhang mit der Patientenzufriedenheit beschrieben Ridsdale et al [
[5]- Ridsdale L.
- Carruthers M.
- Morris R.
- Ridsdale J.
Study of time availability on the consultation.
], dass Patienten mit einem Patient-Arzt-Kontakt von 5 Minuten versus 10 Minuten eher das Gefühl hatten, eine unzureichende Zeit mit dem Arzt verbracht zu haben.
Die Frage, welche grundsätzlichen positiven Effekte für den Patienten eine längere Arzt-Patienten-Zeit hat, beantworten Dugdale et al. in ihrem Review [
[6]- Dugdale D.C.
- Epstein R.
- Pantilat S.Z.
Time and the patient-physician relationship.
] in dem sie zeigen, dass Patientenzufriedenheit, Outcome chronischer Erkrankungen, Verschreibungs-Verhalten, Arztzufriedenheit und das Risiko von Behandlungsfehlern von der Arzt-Patienten-Zeit abhängen.
In der Kinder- und Jugendmedizin gibt es nach unserem Wissen keine Studien zur Beurteilung der Patientenzufriedenheit in Abhängigkeit von der direkten Arzt-Patienten-Zeit. Thyen et al. betonen, dass die (mangelnde) psychosoziale Beratung, die Teil der Arzt-Patienten-Zeit darstellt, durch Eltern von Kindern mit Behinderung in Deutschland als stärkstes unerfülltes Bedürfnis geschildert wird [
[7]- Thyen U.
- Sperner J.
- Morfeld M.
- Meyer C.
- Ravens-Sieberer U.
Unmet health care needs and impact on families with children with disabilities in Germany.
].
Auch zur Frage, wieviel Zeit in der Kinder- und Jugendmedizin überhaupt für den Patientenkontakt aufgewendet wird, existieren nur vereinzelte Studien. Anderson et al [
[8]- Anderson M.R.
- Jewett E.A.
- Cull W.L.
- et al.
Practice of pediatric critical care medicine: results of the Future of Pediatric Education II survey of sections project.
] stellten in ihrer Untersuchung fest, dass PädiaterInnen in der Intensivmedizin zwischen 26 und 43% ihrer Arbeitszeit, in „intermediate care“ 3 bis 5%, in anderen Subspezialitäten 3 bis 16% und auf Station 2 bis 4% ihrer Arbeitszeit mit direktem Arzt-Patienten-Kontakt verbrachten. Administrative Aufgaben machten in der Intensivmedizin 12 bis 20% der Arbeitszeit aus. Eine Limitierung der Studie ist, dass das Hauptaugenmerk auf die – spezifisch ausgestattete und strukturierte – Intensivmedizin gelegt und nicht genauer beschrieben wurde, welche anderen Subspezialitäten untersucht wurden. Mache et al. evaluierten 25 ÄrztInnen in drei deutschen Kinderkrankenhäusern und kamen zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich nur 4% des Arbeitstages für den direkten Patientenkontakt genutzt werden [
[9]- Mache S.
- Vitzthum K.
- Kusma B.
- et al.
Pediatricians’ working conditions in German hospitals: a real-time task analysis.
].
Wir haben uns für die Kinder- und Jugendmedizin in dieser Pilotuntersuchung der Universitätsmedizin gefragt, welcher Anteil der täglichen ärztlichen Arbeitszeit unmittelbar im Kontakt mit dem Patienten als „ärztlich-patientenbezogen“ realisiert wird und welcher Anteil Informations-, Organisations- und Dokumentationsarbeiten gewidmet ist und damit dem Bereich „ärztlich-administrativ“ zugeordnet werden muss. Teil unserer Untersuchung ist dabei auch die Frage, wieviel Zeit für die klinische „hands-on“ Untersuchung des Kindes verwendet wird.
Ergebnisse
Pilottestung der Erhebungsinstrumente
Externe Tätigkeitsbeobachtungen mit Hilfe unseres Fragebogens zeigten eine gute Interrater-Reliabilität (Cohen's Kappa = 0,93), wodurch eine Validierung der Selbstauskunft der ÄrztInnen durch Fremdbeobachtungen gerechtfertigt scheint. In den 6 Fremdbeobachtungen der Pädiater zeigten sich gute (für Z2 bis Z5; Spearmans rho > 0,75) bis mäßige (für Z1; Spearmans rho = 0,41) Korrelationen zwischen Angaben der ÄrztInnen im Fragebogen und Angaben der externen Beobachter ohne Anhalt für größere systematische Differenzen der Angaben (< 4% der Gesamtbeobachtungszeit) zwischen den Beobachtern und den ÄrztInnen. Angaben zu Pausenzeiten, Zeiten für Forschung/Ausbildung und Zeiten für Sonstiges (Z6 bis Z8) waren in den zwei Beobachtungsstunden zu selten, um diese durch externe Angaben quantitativ zu validieren.
Angaben der befragten ÄrztInnen
Das Gesamtkollektiv betrug n = 47, der Rücklauf war mit 92% (n = 43) hoch. Ausgeschlossen wurden 6 ÄrztInnen mit nicht ausreichend plausiblen Angaben (s.o.) sowie ein Arzt mit 24-Stunden-Dienst. Damit standen die Daten von n = 36 (77%) Kinder- und JugendärztInnen für die Analyse zur Verfügung (
Abbildung 1).
Der Großteil der befragten ÄrztInnen arbeitete auf Station (55,6%; n = 20), 6 ÄrztInnen (16,7%) waren am Tag der Befragung in einer spezialisierten Hochschulambulanz tätig, 8 ÄrztInnen (22,2%) in der klinischen Sozialpädiatrie, d.h. im integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum und 2 ÄrztInnen (5,6%) in der allgemeinen (Notfall-) Ambulanz. Die Berufserfahrung als Kinder- und JugendärztIn betrug durchschnittlich 10,4 (±9,5) Jahre. Gesamtarbeitszeiten von über 8,5 Stunden wurden von 91,7% der teilnehmenden ÄrztInnen (N = 33) angegeben. Die durchschnittliche Arbeitszeit betrug 10 Stunden pro Tag; dabei wurden Zeiten zwischen 6 und maximal 12 Stunden angegeben.
Bezogen auf einen regulären 8,5 Stunden Arbeitstag würde eine Patientenkontaktzeit von 159,1 Minuten (95%-KI = [128,8–189,2]) zur Verfügung stehen, davon 117,1 Minuten für persönliche Gespräche oder Telefonate und 41,9 Minuten für die körperliche Untersuchung (
Tabelle 2). Der prozentuale Anteil der Zeit für den Patientenkontakt lag insgesamt bei 31,2% (95%-KI = [25,2–37,1]). Die Zeitkontingente für die anderen klinisch-ärztlichen Aufgaben sind in
Tabelle 2 dargestellt.
Tabelle 2Prozentuale Zeiten bezogen auf die Gesamtarbeitszeit und als Minutenangaben eines 8,5 h-Tages, die Kinder- und JugendärztInnen für die verschiedenen Tätigkeiten aufwenden.
M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, 95%-KI = 95%-Konfidenzintervall, 1 Die im Fragebogen unter „Sonstiges“ angegebenen Zeiten beziehen sich auf Administration/Organisation und werden hier zusammengefasst.
Längere Arbeitszeiten waren – unabhängig von der Berufserfahrung und dem Einsatzort in der Klinik – mit mehr Zeit für die körperliche Untersuchung (p < 0,005) und mit mehr Zeit für Forschung, Unterricht und eigene Ausbildung (p = 0,009) assoziiert. Für die übrigen Tätigkeitsinhalte wurden keine signifikanten Zusammenhänge zur Gesamtarbeitszeit gefunden.
Untersucht man die für einen 8,5 Stunden Tag hochgerechneten absoluten Zeitkontingente für die verschiedenen Einsatzorte der Klinik, so ergibt sich folgendes Bild: Der direkte Patientenkontakt, definiert als Gesamtzeit von Anamnese/Kommunikation und körperlicher Untersuchung, nimmt in der allgemeinen (Notfall-)Ambulanz 59% der täglichen Arbeitszeit in Anspruch (301,1 Minuten/d), in der klinischen Sozialpädiatrie/integriertes Sozialpädiatrisches Zentrum 40% (206,5 Minuten/d), in der spezialisierten Hochschulambulanz 33% (168,1 Minuten/d) und auf der Station 24% (123 Minuten/d) (
Tabelle 3). Die dabei unterschiedliche durchschnittliche Anzahl an Patienten, die ein Arzt oder eine Ärztin im jeweiligen Sektor pro Tag versorgt ist in
Tabelle 3 dargestellt.
Tabelle 3Patientenkontakt (Gespräch und körperliche Untersuchung) und körperliche Untersuchung allein stratifiziert nach Einsatzort der Kinder- und JugendärztInnen.
M = Mittelwert, SD = Standardabweichung, 95%-KI = 95% Konfidenzintervall
Die Zeit pro Patient im direkten Patientenkontakt variierte somit je nach Einsatzort von 14 Minuten pro Patient (bei 3 Minuten für die körperliche Untersuchung) im stationären Bereich und 52 Minuten pro Patient (bei 10 Minuten für die körperliche Untersuchung) im integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum.
Im Gegensatz zu den in
Tabelle 3 dargestellten Arbeitsbereichen zeigt sich bezüglich der Berufserfahrung kein wesentlicher Unterschied in der berichteten Zeit für Patientenkontakt zwischen Assistenten in Weiterbildung und Fachärzten mit langjähriger Erfahrung: >5 Jahre Berufserfahrung: 174,8 Minuten (SD = 116,7); ≤5 Jahre Berufserfahrung: 182,5 Minuten (SD = 81,1); p = 0,84.
Diskussion
Die Ergebnisse unserer Pilotbefragung zum realen Arbeitsalltag in einer universitären Kinder- und Jugendmedizin entsprechen grundsätzlich den Untersuchungen aus der Erwachsenenmedizin.
Hauschild et al [
[11]- Hauschild I.
- Vitzthum K.
- Klapp B.F.
- et al.
Time and motion study of anesthesiologists’ workflow in German hospitals.
] untersuchten die Arbeitseinteilung von deutschen Anästhesisten in der Erwachsenenmedizin. Ungefähr 15% der Arbeitszeit wurde für den direkten Patientenkontakt, 28% für den indirekten Patientenkontakt und 19% für administrative Aufgaben eingesetzt. Weigl et al [
[12]- Weigl M.
- Müller A.
- Zupanc A.
- Angerer P.
Participant observation of time allocation, direct patient contact and simultaneous activities in hospital physicians.
] zeigten, dass Internisten 21% ihrer Arbeitszeit für direkten Patientenkontakt und 69% für indirekten Patientenkontakt, zu dem Dokumentations- und Organisationsaufgaben zählten, aufwendeten.
Der in unserer Untersuchung abgebildete reale Arbeitsalltag einer Universitätspädiatrie setzt ca. 30% der ärztlichen Arbeitszeit für patientenbezogene Aufgaben (Anamnese, Beobachtung, körperliche Untersuchung und Gespräch) und ca. 60% für verwaltungsbezogene Aufgaben (Information, Organisation, Dokumentation) ein. Gehen wir von einem regulären 8,5-Stunden-Arbeitstag aus, dann nehmen die verwaltungsbezogenen Aufgaben ca. 5 Stunden eines zufällig ausgewählten Arbeitstages in der Pädiatrie in Anspruch. In der 2010 von Mache et al. publizierten Studie, welche die Arbeitszeiten in drei pädiatrischen Kliniken erfasste (ohne Differenzierung zwischen universitär und nicht-universitär und ohne Sozialpädiatrisches Zentrum), wurden 4% der Zeit für direkten Patientenkontakt und knapp 13% für indirekten Patientenkontakt verwendet, d.h. die gesamte patientenbezogene Zeit lag bei unter 20% [
[9]- Mache S.
- Vitzthum K.
- Kusma B.
- et al.
Pediatricians’ working conditions in German hospitals: a real-time task analysis.
].
In unserer Studie zeigte sich, dass im integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum der Universität München, in dem die ambulante Betreuung komplex chronisch kranker Kinder (children with medical complexity [
[13]- Krieg S.M.
- Onanini S.
- Sollmann N.
- et al.
The Complexity Signature: Developing a Tool to Communicate Biopsychosocial Severity of Disease for Children with Chronic Neurological Complexity.
]) einschließlich rehabilitativer Versorgung geleistet wird, bei durchschnittlich 4 Patienten pro Arzt/Ärztin und Tag die längste Arzt-Patienten-Kontaktzeit realisiert wird. Die allgemeinpädiatrische Station (mit durchschnittlich 17 Betten und 5 bis 9 Aufnahmen und Entlassungen pro Tag) schneidet bei der täglichen Arzt-Patienten-Kontaktzeit als „Schlusslicht“ ab. Dies entspricht der Selbstwahrnehmung der ÄrztInnen auf Station, die sich oft mehr als „Manager für Prozeduren“ denn als „ärztlich Tätige“ erleben.
In der Studie von Becker et al [
[14]- Becker G.
- Kempf D.E.
- Xander C.J.
- et al.
Four minutes for a patient, twenty seconds for a relative - an observational study at a university hospital.
] wurden verschiedene Disziplinen der Erwachsenenmedizin in einer Universitätsklinik untersucht. Es ergab sich, dass unter 5 Minuten Zeit für die Kommunikation mit jedem Patienten und seinen Angehörigen eingesetzt wurde. In unserer Studie zur Kinder- und Jugendmedizin setzen die ÄrztInnen (in einem vergleichbaren stationär-universitären Setting) ca. 10 Minuten für das Gespräch mit dem Patienten und seinen Eltern ein, das heißt eine in Minuten doppelt so lange Zeit wie in der Erwachsenenmedizin (dabei ist die körperliche Untersuchungszeit von der gesamten Arzt-Patienten-Zeit von ca. 15 Minuten abgezogen).
In unserer Befragung ergab sich, dass 3 Minuten (stationäres Setting) bis 10 Minuten (Sozialpädiatrisches Zentrum) pro Tag für die körperliche Untersuchung des Kindes aufgewandt wurden. Im Einklang damit zeigte die Studie von Mache et al [
[15]- Mache S.
- Jankowiak N.
- Scutaru C.
- et al.
[Always out of breath? An analysis of a doctor's tasks in pneumology].
] über den Arbeitsalltag von Erwachsenen-Pulmologen, dass Untersuchungen am Patienten einen Zeitanteil von durchschnittlich knapp 47 Minuten/Tag bei einer Durchschnittszahl von 17 Patienten/Tag umfassten. Daraus kann eine durchschnittliche Untersuchungszeit pro Patient von ca. 2,8 Minuten geschätzt werden.
Es ist zu fragen, welche realen „hands-on-Zeiten“ für den klinischen Zugang notwendig sind, um (1) den grundlegenden, informativen und (2) den beziehungs-konstituierenden Wert der körperlichen Untersuchung zu realisieren. Für die Kinder- und Jugendmedizin existieren zur Frage der Relation der Länge der körperlichen Untersuchung zur Patienten- bzw. Elternzufriedenheit und zur Frage des besseren Versorgungs-Outcomes jedoch unseres Wissens keine Studien.
Die verschiedenen Arbeitsbereiche der Klinik unterscheiden sich in der Zeitkontingentierung in naheliegender Weise: Der Bereich der Notaufnahme als Akut-Medizin mit durchschnittlich 15 Patienten pro Arzt und Tag sieht sich mit seinem relativ hohen Anteil von Arbeitszeit mit direktem Arzt-Patienten-Kontakt in der Literatur bestätigt. Anderson et al stellten im Bereich der pädiatrischen Intensivmedizin fest, dass je nach Alter der Ärzte zwischen 26% und 43% der Arbeitszeit für den Arzt-Patienten-Kontakt aufgebracht wurden, wobei jüngere Ärzte mehr Arzt-Patienten-Kontaktzeit aufwiesen [
[8]- Anderson M.R.
- Jewett E.A.
- Cull W.L.
- et al.
Practice of pediatric critical care medicine: results of the Future of Pediatric Education II survey of sections project.
]. In unserer Untersuchung zeigen sich keine wesentlichen Unterschiede für erfahrene und weniger erfahrene Kinder- und JugendärztInnen. Die beobachteten Zeiten scheinen grundsätzlich keine Frage von Berufserfahrung oder durch Berufserfahrung erlangte Arbeitseffizienz zu sein.
In unserer Studie machten 92% der befragten ÄrztInnen zur Erfüllung ihrer Aufgaben Überstunden, die laut statistischer Berechnung der patientenbezogenen Zeit einerseits und der wissenschaftlichen Arbeit andererseits zugutekommen. Diese Zahlen unterstreichen das überdurchschnittliche Engagement der Beteiligten, weisen aber auch auf die Arbeitszeitproblematik der Universitätsmedizin hin.
In dieser Pilotuntersuchung universitärer Kinder- und Jugendmedizin sieht es so aus, als ob für die genuin ärztliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht. Die Kontaktzeiten für Anamnese, körperliche Untersuchung, Beobachtung und Prozeduren und die Kontaktzeiten zum Kind und zu seinen Eltern zur Erläuterung, Beratung und Patientenführung sind kurz, möglicherweise zu kurz. Dies könnte bedeuten, dass die Zeit fehlt, die für den ärztlichen Beziehungsaufbau zu Kind und Familie notwendig ist. Die Kinder- und JugendärztInnen könnten Gefahr laufen, auf eine – nicht gewollte – Rolle als eher unpersönliche Funktionsträger organisatorischer Schritte in einem technokratischen Prozessablauf reduziert zu werden.
Eine Stärke der Studie ist die Überprüfung der Erfassungsqualität des Fragebogens, durch stichprobenartige Selbst- und Fremdeinschätzung mit guter Übereinstimmung sowie durch eine akzeptable Inter-Rater-Reliabilität des Fragebogens. Im Gegensatz zur Studie von Becker et al. wurden die Patientenkontaktzeiten und die Zeiten für die Dokumentation nicht wesentlich überschätzt [
[14]- Becker G.
- Kempf D.E.
- Xander C.J.
- et al.
Four minutes for a patient, twenty seconds for a relative - an observational study at a university hospital.
]. Dies begründen wir damit, dass in unserer Studie die Zeiterfassung der verschiedenen Arbeitsbereiche mithilfe eines sehr einfachen Fragebogens mit nur 7 Fragen erfasst wurde, während bei Becker et al. mit insgesamt 19 Fragen eine sehr detaillierte Erfassung stattfand, die möglicherweise zur Überschätzung verleiten könnte. Der Anteil der Kinder- und JugendärztInnen mit fehlender oder nicht gewerteter Information war 11 von 47 (23%). Ein Selektionsbias wäre möglich, wenn die fehlende Information mit definierten Funktionen assoziiert wäre. Hierzu haben wir keine Daten, aber auch keine Hinweise, dass es so sein könnte. Die befragten und beobachteten Kinder- und JugendärztInnen hatten keine Kenntnis vom eigentlichen Ziel und der eigentlichen Fragestellung der Studie, die Studie wurde nur als arbeitsmedizinische Erhebung kommuniziert; die Beobachter gehörten (und gehören) nicht zur Klinik. Die Anzahl der befragten Kinder- und JugendärztInnen war begrenzt. Dennoch erscheinen die 95% Konfidenzintervalle der Prävalenzschätzer hinreichend präzise für die getroffenen Aussagen. Die Erhebung erfolgte an einem zufällig ausgewählten Dienstag, also „unter der Woche“ – nicht an einem Montag oder Freitag, nicht vor oder nach einem Feiertag, nicht in den Schulferien, nicht innerhalb der winterlichen Infekt-Saison der Pädiatrie. Kritisch ist die externe Validität der Erhebung zu diskutieren. Wie berichtet basieren unsere Ergebnisse auf einer Stichprobe einer Universitätskinderklinik und haben damit Pilotcharakter.
Schlussfolgerung
Diese Pilotstudie der universitären Kinder- und Jugendmedizin ergänzt die Ergebnisse der ambulanten Erwachsenenmedizin, beschrieben im Abschlussbericht des Nationalen Normenkontrollrates zu patientenbezogener versus verwaltungsbezogener Arbeit (Abschlussbericht August 2015 mit dem Titel „Mehr Zeit für Behandlung...“, siehe auch Einleitung).
Auch in der Pädiatrie (im stationären wie ambulanten Bereich) wird viel Zeit für administrative Aufgaben und begrenzte Zeit für direkten Patientenkontakt eingesetzt. Es scheint so, dass es auch für die universitäre Humanmedizin für Kinder und Jugendliche eine Herausforderung ist, ihr klinisches “first things first – Gespräch, Beobachtung, Untersuchung“ zeitlich adäquat in einem realen Arbeitstag abzubilden.
Für die 60 Prozent des Tages, die der Administration gehören, sollte in geeigneten Studien herausgearbeitet werden, welche spezifischen Anteile von Administration und Organisation von anderen Berufsgruppen übernommen werden könnten. Dabei ist selbstverständlich, dass Teile der Administration in ärztlichen Händen bleiben müssen und nur so Versorgungsqualität möglich ist.
Aufgabe zukünftiger Studien sollte also eine praktikable, Versorgungsqualität generierende Differenzierung von administrativen Aufgaben im klinischen Alltag, einschließlich ihrer abgestimmten Zuordnung zu medizinischen (Assistenz-)Berufen, sein.
Durch Entlastung der Kinder- und JugendärztInnen von nicht-ärztlichen Aufgaben könnte die Pädiatrie ihr eigentliches Wesen – ihre Zeit für und mit dem Kind – besser realisieren. Sie könnte so ihre klinischen Qualitäten weiter entwickeln und dabei gleichzeitig attraktiver für die nächste Generation werden.
Bei der systematischen Literaturrecherche fiel auf, dass keine pädiatrischen Studien zur Relevanz der gelebten Arzt-Patienten-Kontaktzeit für das Arzt-Patientenverhältnis, für die Patienten- bzw. Elternzufriedenheit und für das Krankheits-Outcome der pädiatrischen Patienten existieren. Hier besteht eindeutig ein hoher Forschungsbedarf. Aus unserer Sicht sollten solche Studien eine objektive Messung der „Hands-on“- und „Hands-off“-Zeiten, der Arzt-Patienten-Zeit, der Arzt-Patienten-Eltern-Zeit sowie Angaben zur Zufriedenheit von Kind (und Eltern) einschließlich Compliance/Adhärenz und Krankheitsverlauf beinhalten.
Als Fazit und Wunsch nach Qualität formulieren wir, dass die den Alltag der Kinder- und Jugendmedizin bestimmenden Pole ”patientenbezogen“ und ”verwaltungsbezogen“ eine direkte Kontaktzeit zum Patienten und seiner Familie zulassen mögen, in der der unmittelbare klinische Zugang zum Kind durch die körperliche Untersuchung in seiner komplexen, individuellen Informationsqualität erhalten bleibt und nicht an einen zunehmenden Zeitdruck verloren wird. Das Great Ormond Street Hospital for Children in London formuliert es mit seinem Motto so: „The Child First and Always“. Das ist, was vom Tage übrig bleiben sollte.
Article info
Publication history
Accepted:
September 7,
2016
Received in revised form:
September 7,
2016
Received:
April 20,
2016
Copyright
© 2016 Published by Elsevier Inc.