Advertisement
Einführung| Volume 112, SUPPLEMENT 1, S1-S2, 2016

Download started.

Ok

Real World Data — Adaptive Pathways: Wohin führt der Weg?

        „Real World Data – ein Gewinn für die Nutzenbewertung?“ Diese Frage stand beim Herbst-Symposium des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Mittelpunkt, das Ende November 2015 in Köln stattfand. Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland präsentierten dazu ihre unterschiedlichen Standpunkte.
        Die Vorträge sind auf iqwig.de als Multimedia-Präsentation oder als PDF-Dokument zum Download verfügbar.
        Braucht man für die Nutzenbewertung neben den Ergebnissen aus vermeintlich „künstlichen“ randomisierten kontrollierten Studien auch Daten aus der „Versorgungsrealität“ (Real World)? Genügt der Verweis auf spätere Daten aus der „Real World“, um die Arzneimittelzulassung vorzuziehen – und damit auf eine schwächere Evidenzbasis zu stützen, so wie es das Konzept des Adaptive Licensing / der Adaptive Pathways vorsieht? Was zeichnet solche Daten, gewonnen aus Registern oder der Versorgungsroutine, eigentlich aus? Wo ist das Fleisch am Knochen der Real World Data: Where is the beef? Dies waren die Fragen, die beim Herbst-Symposium im Zentrum standen.

        „Real World Data“ als Begriff verzichtbar

        Bei aller Verschiedenheit der Positionen herrschte Konsens, dass der Begriff „Real World Data“ ungenau und unzutreffend ist. Denn die sogenannten Daten der realen Welt, gewonnen aus Registern oder Beobachtungsstudien, bilden keineswegs immer den Versorgungsalltag ab. Ebenso entstammen die in randomisierten kontrollierten Studien (RCT) ermittelten Daten sehr wohl dem realen Leben. Doch sie werden nicht den „Real World Data“ zugerechnet. „Real World Data“, das zeigte die Diskussion, fungiert als unscharfes Synonym für all jene Daten, die nicht RCT entstammen. Man war sich weitgehend einig, aus diesen Gründen den Begriff zu verlassen und eher von RCT und Non-RCT zu sprechen.

        Erreichte Standards nicht verlassen

        Welche Rolle kommt nun RCT und Non-RCT bei der Nutzenbewertung zu? Die Vorträge und Diskussionen zur Klärung dieser Frage konnten das IQWiG nicht davon überzeugen, seine Position, nachlesbar im Methodenpapier, zu verlassen, die da lautet: Zu den wichtigsten Prinzipien der evidenzbasierten Medizin (EbM) gehört der faire Vergleich. Randomisierte kontrollierte Studien ermöglichen am ehesten faire Vergleiche: Denn die zufällige Verteilung auf die beiden Studienarme ist die einfachste Methode, um zu verhindern, dass bestimmte Merkmale der Studienteilnehmer, wie etwa Begleiterkrankungen, das Ergebnis verzerren. Aus diesem Grund sind sie am ehesten für die Nutzenbewertung geeignet. Soweit aus Non-RCT faire Vergleiche möglich sind, können sie auch für die Nutzenbewertung herangezogen werden. Aber die Anforderungen hierfür sind hoch und nach bisheriger Erfahrung nur selten erfüllt.
        Da RCT die höchste Aussagesicherheit bieten, sind sie bei der Arzneimittelzulassung seit über 40 Jahren internationaler Standard und werden auch von HTA-Agenturen bei der Nutzenbewertung bevorzugt. Neuerdings gibt es jedoch Bestrebungen, erreichte Standards wieder aufzugeben und ohne Not eine erhöhte Unsicherheit oder gar falsche Ergebnisse in Kauf zu nehmen. Diese Tendenz lässt sich nicht nur in der Wissenschaft beobachten. Auch in politischen Entscheidungen ist sie erkennbar.

        Beispiel Medizinprodukte

        Anders als Arzneimittel müssen Medizinprodukte vor dem – europaweit geregelten – Marktzugang bislang nicht in aussagekräftigen klinischen Studien nachweisen, dass ihre Anwendung am Menschen wirksam und unbedenklich ist. Seit Mitte 2015 gibt es mit § 137 h SGB V aber eine nationale Regelung. Sie verfolgt das Ziel, für Hochrisikoprodukte, bei denen es zumindest ein „Potenzial“ für einen Nutzen gibt, klinische Studien anzustoßen, die die noch fehlenden Nutzennachweise liefern sollen. Das ist ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung.
        Um einen Nutzen zu belegen, sind aussagekräftige Studien nötig, in der Regel RCT. Nun ist es den Kliniken laut § 137 h aber freigestellt, ob sie sich an RCT oder an „Beobachtungsstudien“ beteiligen, die „flankierende Daten zu Wirksamkeit und Sicherheit liefern“. So konterkariert der Gesetzgeber sein selbst gestecktes Ziel: Denn mit dieser Option entfällt die Motivation für Kliniken, sich an aussagekräftigen Studien zu beteiligen. Doch ohne solche Studien stehen „flankierende Daten“ allein – und sind damit wertlos.

        Beispiel: Adaptive Pathways

        Welche Arzneimittelsicherheit bieten die auf EU-Ebene vorgesehenen verkürzten Zulassungsverfahren für Arzneimittel‚ die unter den Namen „Adaptive Pathways“ oder „Adaptive Licensing“ laufen? Danach sollen „vielversprechende“ („promising“) neue Wirkstoffe schrittweise zugelassen werden: Auf Basis von weniger Daten aus RCT und mehr Daten aus Non-RCT wird ein Wirkstoff zunächst für eine eingeschränkte, unter Umständen kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten zugelassen. Weitere Evidenz soll danach unter anderem mittels Anwendungsbeobachtungen oder Registerauswertungen gewonnen werden. Um die durch die frühere Zulassung erzeugte zusätzliche Unsicherheit zu „kompensieren“, sollen Verschreibung und Anwendung per „Managed Use“ kontrolliert werden. Innovationen würden so gefördert und kämen schneller zum Patienten – so reklamieren es die Verfechter des Konzepts.
        Die Position des IQWiG hierzu ist klar: Kleinere, kürzere oder schlechtere Studien werden bei diesem Verfahren die Unsicherheit bei der Markteinführung erhöhen. Zudem gibt es begründete Zweifel daran, dass die Gewinnung weiterer notwendiger Evidenz nach der Zulassung ausreichend funktioniert. Schließlich ist bekannt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten gibt, wenn nach der Zulassung weitere erforderliche Studien nicht gemacht werden. Die frühere Verfügbarkeit von Wirkstoffen wird demnach erkauft durch höhere Unsicherheit. Für Patientinnen und Patienten wird daraus eine „Lose-lose-Situation“, wenn, wie vorgeschlagen, ihre Schadenersatzklagen in der ersten Vermarktungsperiode auch noch ausgeschlossen werden – wegen besonderer Unsicherheit der Arzneimittel.
        Des Weiteren mag es in Ländern wie Großbritannien, der Schweiz oder auch Österreich möglich sein, die Verschreibung und Anwendung einzuschränken und zu kontrollieren („Managed Use“). In Deutschland geht dies derzeit nicht.

        Wollen die Bürgerinnen und Bürger das?

        Sicher ist: Das Risiko steigt, verlässt man bei der Zulassung die erreichten gewonnenen Standards. Dass die entsprechenden Initiativen auf den Wunsch der Patienten nach „schnellem Zugang zu Innovationen“ zurückgehen, ist bloße Behauptung. Weder hat sie jemand gefragt noch ihnen gesagt, welchen Preis sie dafür zahlen müssten. Wenn wir die Versorgung verbessern, also Fortschritt haben wollen, dann brauchen wir mehr verlässliche Studien und nicht weniger.
        Korrespondenzadresse:
        Prof. Dr. med. Jürgen Windeler
        Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
        Im Mediapark 8
        D-50670 Köln