Summary
In 2014, a pilot project of the European licensing authority EMA was launched to explore new ways to license medicinal products. The intention of this project is to open up gradual (“adaptive”) licensing pathways, with pharmaceutical developing preparations gaining market authorization on the basis of clearly lower-level evidence of effectiveness and risk of damage than before. Their market authorization shall, initially, be restricted, for example, to subpopulations of patients or to selected indications. When new data from subsequent become available, the extension of the authorization shall follow in a stepwise manner. Data from investigations using less valid methodology shall also find consideration, such as, for example data from uncontrolled studies. The experience with accelerated market access, which is already being offered by several drug authorities, may give rise to concerns about the use of procedures that keep drugs with a negative benefit-risk relation for the patients in the market for many years – apart from the costs for the healthcare system. It is unacceptable that manufacturers will be exempt from (strict) liability for these adaptively licensed pharmaceuticals. If patients suffer damage from taking these medications, they cannot even expect material compensation.
Zusammenfassung
Im Jahr 2014 wurde ein Pilotprojekt der europäischen Zulassungsbehörde EMA zu einem neuen Arzneimittelzulassungsweg lanciert. Im Rahmen eines schrittweisen („adaptiven“) Genehmigungsverfahrens sollen pharmazeutische Entwicklungspräparate mit deutlich geringerer Evidenz zu Wirksamkeit und Schadensrisiko als bisher üblich die Zulassung als Arzneimittel erhalten. Diese soll zunächst eingeschränkt gelten, z.B. für Subpopulationen von Patientenkollektiven oder Teilindikationen. Nach und nach soll dann die Zulassung mit Daten aus Folgestudien erweitert werden. Hierbei sollen auch Daten aus Untersuchungen mit wenig aussagefähiger Methodik Berücksichtigung finden, beispielsweise aus nicht kontrollierten Studien. Die Erfahrungen mit bereits existenten beschleunigten Zulassungsverfahren verschiedener Zulassungsbehörden lassen befürchten, dass durch einen solchen Zulassungsweg jahrelang Arzneimittel im Handel bleiben, deren Nutzen-Risiko-Relation für die Patienten negativ ist – von den Kosten für die Gesundheitssysteme ganz abgesehen. Völlig inakzeptabel ist, dass offensichtlich für solche adaptive Zulassungswege das Haftungsrisiko für die pharmazeutischen Unternehmen (Gefährdungshaftung) ausgesetzt werden soll. Im Schadensfall könnten die Patienten nicht einmal eine materielle Kompensation erwarten.
Zulassung in kleinen Schritten
In der europäischen Zulassungsbehörde EMA wird an einer neuen Methodik der Arzneimittelzulassung gearbeitet. Es handelt sich um die so genannte schrittweise Zulassung, englisch
Adaptive Licensing (AL). Weitere Synonyma sind
Staggered Approval,
Adaptive Pathways (AP) sowie
Medicines Adaptive Pathways to Patients (MAPP). Auch andere Zulassungsbehörden wie die kanadische entwickeln mit dem
Progressive Licensing Project einen neuen, schnelleren Zulassungsweg [
]. Mit den vier Zulassungsvarianten
Fast Track, Breakthrough Therapy, Accelerated Approval und Priority Review ging die US-amerikanische FDA bisher schon einen ähnlichen, aber nach dem medizinischen Bedarf höher differenzierteren Weg [
]. Der
21st Century Cures Act beinhaltet weitere Maßnahmen zur Absenkung der Evidenzerfordernisse für die Arzneimittelzulassung [
].
Die EMA ist derzeit in der Entwicklungsphase der schrittweisen Zulassung; im März 2014 wurden pharmazeutische Unternehmer eingeladen, an einem AL-Pilotprojekt teilzunehmen [
].
Das Grundprinzip der schrittweisen Zulassung ist, einen neuen Wirkstoff zunächst für eine kleinere Subpopulation von Patienten einer Krankheitsentität auf Basis weniger Daten aus kleinen randomisierten klinischen Prüfungen (RCT) zuzulassen. Denkbar erscheint sogar die aus Sicht der Evidenz-basierten Medizin sehr fragwürdigen Zulassung auf Basis nicht kontrollierter, einarmiger Studien. Nach und nach soll dann mit zusätzlichen Studiendaten die Zulassung auf weitere Patientengruppen oder weitere Indikationen ausgedehnt werden; explizit sollen dabei Daten niedriger Evidenzstärke (also nicht aus RCT) Eingang in die Bewertung finden [
[5]Adaptive licensing: taking the next step in the evolution of drug approval.
].
Als hauptsächliches Ziel wird angeführt, pharmazeutischen Entwicklungssubstanzen schneller als im herkömmlichen Zulassungsverfahren die arzneimittelrechtliche Zulassung erteilen zu können und damit früher als bisher Patienten den Zugang zu neuen Medikamenten zu ermöglichen. Insbesondere der Begriff MAPP suggeriert die Patientenorientierung. Dabei wird argumentiert, dass das traditionelle Zulassungsverfahren mit den klassischen klinischen Prüfungen der Phasen I, II und III zu langwierig und umständlich sei und den immer weiter fortschreitenden Differenzierungen therapeutischer Strategien, z.B. auf Basis genetischer oder biologischer Marker in der Onkologie, nicht gerecht werde. Dieses Argument ist nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, insbesondere bei weniger häufig auftretenden Erkrankungen oder kleinen Teilpopulationen von Patienten, für die ein Entwicklungspräparat geeignet erscheint.
Allerdings werden auch recht unverhohlen und explizit die Interessen der pharmazeutischen Unternehmen berücksichtigt: Sie sollen durch die schrittweise Zulassung von geringeren Entwicklungskosten, beispielsweise durch kürzere sowie kostengünstigere klinische Studienprogramme, sowie von einem im Lebenszyklus des Präparates früher einsetzenden finanziellen Erträgen profitieren [
[5]Adaptive licensing: taking the next step in the evolution of drug approval.
].
Unbestritten bestehen bei dem möglichen neuen Zulassungsweg AL niedrigere Nachweisanforderungen für die erste Markteinführung als bei der herkömmlichen Zulassung. Dies bedeutet eine deutlich höhere Unsicherheit bezüglich der Nutzen-Risiko-Relation neuer Wirkstoffe. Dies wird auch von den Befürwortern des AL zugegeben und ihre fragliche Akzeptanz in Wissenschaft und Gesellschaft als Schlüssel-Aspekt angesehen [
[6]From adaptive licensing to adaptive pathways: delivering a flexible life-span approach to bring new drugs to patients.
].
Kritiker warnen davor, dass AL in Zukunft nicht nur auf seltene Krankheitsentitäten beschränkt werden könnte, was eine schleichende Aufweichung des bisherigen allgemeinen Sicherheitsstandards der Arzneimittelzulassung bedeutete. Bisher ist nicht zu erkennen, ob bei der Entwicklung der schrittweisen Zulassung eine Differenzierung zwischen selteneren und häufigeren Erkrankungen beabsichtigt oder methodisch bereits berücksichtigt ist. Auch ist völlig unklar, welche Verpflichtungen zur Erhebung welcher Daten den pharmazeutischen Hersteller nach der ersten Marktzulassung ihres Produktes auferlegt werden. Die den Kritikern oft entgegengehaltene Verbesserung der Arzneimittelsicherheit seit Einführung des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) im Bereich der EMA greift zu kurz, weil dessen Aufgaben auf die Erhebung des Nebenwirkungsprofiles beschränkt sind [
[7]Proactively managing the risk of marketed drugs: experience with the EMA Pharmacovigilance Risk Assessment Committee.
].
Intransparenz im Verfahren
Das Misstrauen gegenüber dem Pilot-Projekt der EMA zur schrittweisen Zulassung wird durch seinen Mangel an Transparenz nicht gerade gemindert. So ist unbekannt, welche Entwicklungspräparate dem gegenwärtigen Pilot-Projekt unterzogen werden. Mag dies mit dem Schutzinteresse von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen kommerzieller Unternehmen noch begründbar sein, ist nicht nachvollziehbar, dass kein Zugang zu den Verfahrensfortschritten besteht. Eine frühe wissenschaftliche Diskussion methodischer Zwischenergebnisse, beispielsweise zur Eignung von Studien unterschiedlicher Evidenzqualität in der Abwägung von Nutzen und Risiko von Entwicklungspräparaten, wäre wünschenswert, da sie Einfluss auf die zukünftigen Entwicklungsstrategien pharmazeutischer Präparate haben könnten. Die EMA handelt hier weder im Interesse der Patienten noch in dem der wissenschaftlichen Öffentlichkeit.
Kontrollierte und nicht kontrollierte Studien
Die Abwägung zwischen Nutzen und Schadensrisiko eines neuen Wirkstoffes ist zentraler Bestandteil der Entscheidung für oder gegen seine Zulassung als Arzneimittel. Angesichts der immanenten Begrenzung des aus klinischen Studien verfügbaren Wissens beruht sie letztlich auf der Entscheidung, wieviel Unsicherheit akzeptiert werden kann.
Selbstverständlich ist diese Entscheidung von vielen Faktoren abhängig. An erster Stelle vom Leidensdruck, den die Erkrankung ausübt, und von der Verfügbarkeit therapeutischer Alternativen. Ist die Bedrohung für das Wohl des Patienten hoch und stehen keine Therapieoptionen zur Verfügung, neigt die medizinische Welt zu einer höheren Risikoakzeptanz und vice versa.
Der Goldstandard für den Nachweis einer therapeutischen Wirksamkeit ist die randomisierte, kontrollierte Studie (RCT), im besten Fall doppelt oder dreifach verblindet. Ausschließlich mit der Methode des RCT kann der Einfluss von Störgrößen (Confounder) auf das Untersuchungsergebnis mit hinreichender Verlässlichkeit ausgeschlossen werden, da die Kontrollgruppe – bis auf das zu evaluierende therapeutische Prinzip – in allen Eigenschaften identisch ist und identisch behandelt wird. Ohne Zweifel existieren für nicht-kontrollierte Studien zahlreiche statistische Methoden zur Verringerung von Ergebnisverzerrungen durch Confounder, letztlich ausschließen lassen sie sich niemals. In seiner wissenschaftlichen Belastbarkeit ist das RCT unverzichtbar [
[8]Randomisierte kontrollierte Studien: Kritische Evaluation ist ein Wesensmerkmal ärztlichen Handelns.
].
Für nicht kontrollierte Studien, wie sie z.B. Anwendungsbeobachtungen oder Datenbank-/Register-Studien darstellen, wird gerne der Terminus „Real World Data“ verwendet. Dies soll suggerieren, dass durch nicht kontrollierte Studien Nachteile von RCT überwunden, RCT vielleicht sogar ersetzt werden könnten. Beschränkungen von RCT existieren tatsächlich und sind zu berücksichtigen. So kann beispielsweise die Aussagen-Reichweite eines RCT auf die Patientenpopulation beschränkt sein, für die Ein- und Ausflusskriterien definiert waren, auf die Beobachtungsdauer der Studientherapie oder auf Protokoll-bedingte Kombinationen mit anderen Therapieansätzen.
Große, nicht kontrollierte Studien können ohne Zweifel orientierende Informationen über das Alltagsgeschehen in der täglichen ärztlichen Praxis bereitstellen. Sie ermöglichen Hypothesen-bildende Ergebnisse, in der Regel jedoch keine konfirmatorischen Aussagen. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Substitutionstherapien) kann eine nicht kontrollierte Studie aufgrund der fehlenden Confounder-Kontrolle keine valide Aussage darüber liefern, welchen kausalen Einfluss das geprüfte therapeutische Prinzip auf den Krankheitsverlauf eo ipso hatte. Bisher ist unklar, wie die EMA mit solchen nicht validen Studienergebnissen im Rahmen eines schrittweisen Zulassungsverfahrens umgehen will. Eine Gleichstellung mit den Ergebnissen von RCT wäre wissenschaftlich inakzeptabel.
Erfahrungen aus bisherigen beschleunigten Zulassungsverfahren
Im Vergleich zu den Standardverfahren beschleunigte Zulassungswege sind keineswegs neu. Schon seit Jahrzehnten existieren sowohl im amerikanischen (FDA) als auch im europäischen (EMA) Zulassungsbereich Verfahren zur beschleunigten Zulassung. Ein Beispiel sind Conditional Approvals, bei denen, ähnlich wie beim AL, das öffentlichkeitswirksame Ziel die schnellere Verfügbarkeit von neuen therapeutischen Prinzipien ist, meist für Erkrankungen ohne valide Therapiealternative. Auch hier soll zunächst auf Basis einer beschränkten Datenlage die Zulassung für eingeschränkte Patientenpopulationen oder stark eingeschränkte Indikationen erteilt werden. Aus weiteren Studienergebnissen soll dann die Öffnung der Zulassung für zusätzliche Patientengruppen und weitere Indikationen erfolgen.
Damit liegen für schrittweise bzw. beschleunigte Zulassungswege „Real World“ Erfahrungen vor, die eine Einschätzung des Verlaufes zukünftiger AL-Verfahren erlauben. Diese Erfahrungen sind ernüchternd.
So beschrieb eine Arbeitsgruppe der FDA [
[9]Accelerated approval of oncology products: the food and drug administration experience.
] die regulatorische Historie von 35 Präparaten, die zwischen 1992 und 2010 in 47 onkologischen Indikationen von der FDA im Rahmen beschleunigter, aber mit Auflagen versehener Verfahren zugelassen wurden.
- •
Nur in 26 der 47 Indikationen zeigte sich in Nachzulassungsstudien ein klinischer Benefit im Sinne von Zusatznutzen, der zu regulärer Zulassung führte
- •
Die Zeit bis dahin betrug im Median bzw. Mittel knapp 4 bzw. 5 Jahre
- •
In den 21 Fällen ohne klinischen Benefit hatte die Mehrzahl (13) der ersten Zulassungen auf einarmigen Studien beruht
- •
In 3 Indikationen wurde die Zulassung widerrufen oder extrem eingeschränkt
- •
Für 14 Indikationen lagen keine Bestätigungsstudien vor (Zeitpunkt Publikation)
Ähnliche Beobachtungen wurden von Law (2012) berichtet, der das kanadische Programm
Notice of Compliance with Conditions (NOC/c) untersuchte, insbesondere die Befolgung der behördlichen Auflagen durch die pharmazeutischen Unternehmer bei insgesamt 70 Zulassungen zwischen 1998 und 2012.
- •
Bei 29 (41%) waren die Auflagen erfüllt worden
- •
Bei 34 (29%) stand die Auflagenerfüllung noch aus
- •
In 7 (10%) Indikationen bestand keine Zulassung mehr
- •
Die mediane Zeit zur Erfüllung der Konditionen betrug 5 Jahre
Angesichts dieser gut belegten Negativ-Erfahrungen und fehlender gesetzlicher Erfordernisse kann nur mit einem gehörigen Maß an Naivität angenommen werden, dass sich zukünftige adaptive Zulassungsprozesse besser gestalten im Sinne einer Durchführung valider kontrollierter Studien nach einer erfolgten Marktzulassung. Viel eher ist anzunehmen, dass die pharmazeutischen Unternehmen den Weg des geringeren Widerstandes wählen und bereitwillig die von der EMA eingeräumte Möglichkeit der Wissensgenerierung durch andere Quellen wie z.B. nicht kontrollierte Studien annehmen werden.
Wie schlecht es um die wissenschaftliche Qualität von nichtinterventionellen Studien bestellt ist, demonstriert eine aktuelle Untersuchung der dem deutschen BfArM gemeldeten Anwendungsbeobachtungen [
[10]- von Jeinsen B.K.
- Sudhop T.
1-year cross-sectional analysis of non-interventional post-marketing study protocols submitted to the German Federal Institute for Drugs and Medical Devices (BfArM).
]. Innerhalb eines Jahres wurden dem BfArM 136 Anwendungsbeobachtungen mit ca. 330.000 Patienten gemeldet. In 68% dieser Projekte war das untersuchte pharmazeutische Produkt länger als 5 Jahre, in 19% länger als 19 Jahre zugelassen. Anerkannte methodische Qualitätssicherungs-Maßnahmen waren nur in etwa der Hälfte Bestandteil der Protokolle. Die Autoren schlossen, dass der verbreitete Vorwurf, Anwendungsbeobachtungen dienten hauptsächlich Marketingzwecken, durch diese Untersuchung zumindest nicht widerlegt werden könne.
Mag diese zurückhaltende Feststellung fast humoristisch anmuten, sie unterstreicht die ernste Forderung, dass sich die EMA einer öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion zu stellen hat, inwieweit im Rahmen von schrittweisen Zulassungsverfahren Studienergebnisse mit niedrigem Evidenzgrad wie aus nicht kontrollierten Studien in den Erkenntnisprozess zu einem pharmazeutischen Produkt eingeschlossen werden sollen.
Gesundheitsrisiko – ganz beim Patienten
Im Rahmen der Gefährdungshaftung (§ 84 AMG) trägt ein pharmazeutischer Hersteller die Verantwortung für unerwünschte Wirkungen seiner Produkte, solange sie nicht in der medizinisch-wissenschaftlichen Welt allgemein bekannt sind.
Wie oben beschrieben, erhöht das AL-Zulassungsverfahren aufgrund der geringeren Informationsbasis dramatisch die Unsicherheit bezüglich des Nutzen-Risiko-Verhältnisses neu zugelassener Substanzen. Ein Anstieg der Häufigkeit von schweren Schadensfällen ist zu befürchten. Dies ist den Beteiligten, allen voran den pharmazeutischen Herstellern, bewusst. Deren Bedenken sind offensichtlich bei der EMA auf verständnisvolle, offene Ohren gestoßen. Nicht anders ist es zu erklären, dass für Wirkstoffe, die einem Adaptive-Licensing-Verfahren unterzogen werden, die Gefährdungshaftung eingeschränkt, wenn nicht gar aufgehobenen werden soll [
5Adaptive licensing: taking the next step in the evolution of drug approval.
,
6From adaptive licensing to adaptive pathways: delivering a flexible life-span approach to bring new drugs to patients.
]. Natürlich müssen im Gegenzug Patientinnen und Patienten über das besondere Risiko aufgeklärt werden. Doch sie haben ja die freie Entscheidung, dieses Risiko einzugehen, oder aber auf die hoffnungsvolle Therapieoption zu verzichten. Dies stellt eine geradezu zynisch anmutende, ethisch inakzeptable lose-lose-Situation für die Patienten dar: Sie sind quasi Studienteilnehmer und damit einem immanenten Risiko ausgesetzt, und sie können im Schadensfall nicht einmal eine finanzielle Kompensation erwarten.
Kostenrisiko für die Versicherten
Auch die Kostenrisiken für die Versichertengemeinschaft sind unübersehbar, sollten schrittweisen Zulassungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel werden. In einer aktuellen Simulation berechneten Mitarbeiter des US-amerikanischen National Center for Health Research die finanziellen Konsequenzen für das Gesundheitssystem, wenn es im Rahmen des
21st Century Cures Act zur schrittweisen Zulassung von Entwicklungspräparaten gekommen wäre [
[11]21st Century Cures Act and similar policy efforts: at what cost?.
].
Gegenstand der Untersuchung waren drei Entwicklungspräparate in der Indikation Alzheimer-Demenz: Semagacestat, Bapineuzumab sowie Latrepirdine. Alle drei Substanzen wiesen vielversprechende Ergebnisse der Phase-II-Studien auf. In diesen als „proof of concept“ bezeichneten Studien wird die Wirksamkeit in einem eng definierten klinischen Setting an Patienten untersucht. Diese Daten sind in der Regel die Grundlage für das Design der eigentlichen Zulassungsstudien (Phase III).
Bapineuzumab und Latrepirdine scheiterten aufgrund von Unwirksamkeit, die Phase III Studie zu Semagacestat wurde aufgrund von inakzeptablen Nebenwirkungen vorzeitig abgebrochen. Kein Präparat erreichte je eine Arzneimittelzulassung. Die Autoren kalkulierten, dass dem amerikanischen Gesundheitssystem Kosten in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar jährlich entstanden wären, wenn bereits nach der Phase II mit ihren vielversprechenden Ergebnissen eine erste Zulassung erfolgt wäre. Dabei wurde angenommen, dass ca. 18% der Alzheimer-Patienten (234.000) einen dieser Wirkstoffe verschrieben bekommen hätten, was angesichts des Leidensdrucks der Erkrankung und des Fehlens therapeutischer Alternativen eher konservativ erscheint. Auch die vier Jahre Arzneimitteleinsatz erscheinen realistisch. Bei der Annahme von vier Jahren Marktzulassung – in etwa der Zeitbedarf für Phase III Studien – hätten sich die Kosten für nutzlose und zum Teil gefährliche Wirkstoffe auf 6 Milliarden Dollar summiert.
Zusammenfassung und Forderungen
Die gemeinsamen Anstrengungen von pharmazeutischer Industrie und europäischer Zulassungsbehörde, mit dem Verfahren der schrittweisen Zulassung (adaptive licensing) schneller zu mehr und besseren Arzneimittelinnovationen zu kommen, sind in der jetzigen Form sowie nach bisheriger Erfahrung mit beschleunigten Zulassungen fragwürdig. Vielmehr erscheint dadurch die Sicherung der therapeutischen Qualität neuer Arzneimittel gefährdet, das Nebenwirkungsrisiko erhöht und darüber hinaus auf den einzelnen Patienten abgewälzt. Das Kostenrisiko für die Versichertengemeinschaft ist unübersehbar. Prinzipiell sinnvolle Ansätze des Verfahrens, insbesondere eine stringentere behördliche Überwachung des Arzneimittels nach seiner Zulassung, können nur durch gesetzliche Regelungen, die den pharmazeutischen Hersteller zur Erzeugung und Bereitstellung transparenter, valider und patientenrelevanter Daten zu Nutzen und Risiko verpflichten, zu einem guten Ergebnis führen.
Literatur
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U.S. Food and Drug Administration (FDA, 2016) http://www.fda.gov/ForPatients/Approvals/Fast/default.htm (abgerufen 09.03.2016).
114th Congress (2015-2016) https://www.congress.gov/bill/114th-congress/house-bill/6 (abgerufen 09.03.2016)
EMA (2014) http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Other/2014/03/WC500163409.pdf (abgerufen 09.03.2016)
Adaptive licensing: taking the next step in the evolution of drug approval.
Clin Pharmacol Ther. 2012; 91: 426-437From adaptive licensing to adaptive pathways: delivering a flexible life-span approach to bring new drugs to patients.
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Nat Rev Drug Discov. 2014; 13: 395-397Randomisierte kontrollierte Studien: Kritische Evaluation ist ein Wesensmerkmal ärztlichen Handelns.
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- Sudhop T.
1-year cross-sectional analysis of non-interventional post-marketing study protocols submitted to the German Federal Institute for Drugs and Medical Devices (BfArM).
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